Armee in der Falle

Viele durchaus sehr demokratische gesinnte Menschen rätseln darüber, wie ein amerikanischer Präsident über die Vorgänge in Ägypten besorgt sein kann, oder warum ein deutscher Außenminister den Machtwechsel gar als Rückschlag für die Demokratie wertet. Entweder haben beide von nichts eine Ahnung, oder sie sind schlecht beraten – oder sie fürchten sich vor etwas. Tatsächlich hat sich in Ägypten etwas getan, was vor allem den amerikanischen Präsidenten in große Sorgen versetzen muss. Die ägyptische Armee, die im Moment als der große Machtfaktor dasteht, die einen gewählten Präsidenten aus dem Amt gejagt hat und zudem einen Staat im Staat bildet, ist ja gleichzeitig auch einer der wichtigsten Verbündeten der USA in dieser Region. Immerhin sponsorn die Amerikaner das ägyptische Militär mit 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Und diese Armee hat vorgestern bei näherem Hinschauen eigentlich eine ganz empfindliche Niederlage einstecken müssen. Im Moment wird das alles durch Jubelszenen auf dem Tahrir überdeckt. Aber Barak Obama muss ich in der Tat sorgen um die ägyptische Armee machen. Diese Revolution 2.0 könnte sie nämlich nachhaltiger ändern, als das viele im Moment glauben mögen.

Schauen wir uns das Militär mal etwas genauer an. Die Führungsspitze ist weder demokratisch noch besonders freiheitlich orientiert. In den Militärakademien kursieren unter den künftigen Offizieren das Landes solch literarische Blüten wie zum Beipiel „Mein Kampf“. Durch übermäßig große Lust an der Kriegsführung ist Ägyptens Armee seit 40 Jahren – Gott sei Dank – auch nicht mehr aufgefallen. Dafür haben die Militärs ein Wirtschafts- und Verwaltungsimperium aufgebaut, das seines gleichen sucht. Panzer und Raketen sind weitgehend Nebensache und dienen eher als Spielzeug. Längst die die Armee ein sich selbst erhaltendes System geworden – steuerfrei.  Man kann nicht einmal sagen, dass die Armee das Land systematisch ausblutet. Sie schafft ja auch Arbeitsplätze – sehr viele sogar. Staat und Armee sind eher in einer symbiotischen Struktur miteinander verbunden. Und genau das macht sie nun angreifbar.

Hat der Jungenfrauentester Abdel Fatah al Sissi tatsächlich in einer Anwandlung von Demokratiebesoffenheit Tamarod die Hand gereicht? Hat er sich nach einem Damaskuserlebnis vom Saulus zum Paulus gewandelt, zum großen Freiheitskämpfer? Möglich, aber kaum anzunehmen. Nein, der oberste Militär hat sich erpressen lassen – vom Volk. So einfach sieht es aus. Seit etwa einem halben Jahr wurden die Stimmen immer lauter, das Militär solle eingreifen. Es hatte seit Monaten immer wieder mal sehr wachsweiche Ankündigungen der Armee gegeben, vielleicht mal irgend wann etwas zu tun, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab gehe. Das wurde zurecht als der kolossale Unwille gewertet, in die Politik aktiv einzugreifen. Doch auf einmal ging alles sehr schnell. Als Tamarod plötzlich Millionen auf die Straße brachte und am vergangenen Sonntag das Ultimatum vom Tahrir kam, reagierten die Militärs. Kaum hatten die Demonstranten mit bedingungslosem zivilen Ungehorsam gedroht, kam auch schon ein Ultimatum der Armee. Warum wohl? Sie hatten das Wort vom „bedingungslosen Ungehorsam“ völlig richtig mit „Generalstreik“ übersetzt. Doch wem hätte denn ein Generalstreik am meisten geschadet? Doch denjenigen, die am meisten Menschen beschäftigen. Um es platt auszudrücken: Die Militärs fürchteten die Pleite ihrer eh schon ausgesprochen angeschlagenen Unternehmen.

Doch warum war das Eingreifen des Militärs nun langfristig eine Niederlage? Erstmals in der jüngeren Geschichte hat sich das Militär vom Volk zu etwas zwingen lassen. Es hat eine offene Flanke gezeigt und offenbart, wo es verwundbar ist: Nämlich genau dort, wo es verdient. Die Androhung von Streiks werden die Militärs nicht weniger beunruhigen, als die Ankündigung Obamas die jährliche Militärhilfe zu überdenken. Wenn das dem ägyptischen Volk klar wird, dann kann das der erste Schritt sein, um die alt her gebrachten Strukturen aufzubrechen.

Niemand kann im ernst erwarten, dass sich das Militär von heute auf morgen von seine Reiseunternehmen und Nudelfabriken trennt. Aber das Volk kann sehr wohl vom Militär erwarten, dass es in einer großen wirtschaftlichen Krise endlich einmal damit anfängt, Steuern zu bezahlen. Es kann auch darauf pochen, dass es irgendwann seine Finanzen offenlegt. Wie es dann weiter geht? Man wird sehen.

Aber auch das Militär hat ja seine Möglichkeiten. Es steht ja unter dem Druck, der Welt, vor allem der westlichen, beweisen zu müssen, dass das, was da in Ägypten passierte, auch rechtens ist und das geht nur über einen Erfolg der Regierung – einer zivilen Regierung der nationalen Einheit. Die Erfahrungen mit der Opposition in der Vergangenheit sind leider wenig ermutigend. Da hatte sich zum Beispiel der ägyptische Block mit 15 Parteien, Verbänden und Gewerkschaften selbst so zerlegt, dass nur noch drei Parteien übrig blieben. Nun müssen sich die einstigen Oppsitionskräfte zusammenraufen. Dass sie es schaffen wäre eher unwahrscheinlich, stünde nicht das Militär im Hintergrund, das sie möglicherweise dazu zwingt.

Wie immer man das Kind vom 3. Juli nennen will, zweite Revolution, Putsch oder Staatsstreich – eines ist jedenfalls klar: Die Armee ist dem Volk in die Falle gegangen – nicht umgekehrt.

Dann jagen wir sie eben zum Teufel

Es ist ja manchmal so nach einem großen Fest, daß man mit einem gehörigen Kater erwacht. Wenn es am Tag nach den Erfolg der „Rebellion“, wie Tamarod übersetzt heißt, zu einer Art Kater kam, dann sorgten dafür ausgerechnet US-Präsident Barak Obama und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Beide äußerte sie ihre Sorgen und mahnten das Militär, die Macht so schnell wie möglich wieder in zivile Hände zu legen. Zumindest bei Obama erscheint mir die Mahnung als etwas heuchlerisch, denn es ist kaum anzunehmen, dass Abdel Fatah el Sissi auch nur einen Schritt gemacht hat, ohne sich zuvor mit dem Pentagon abzusprechen.

Die gesamte Legitimationdebatte, die schon gestern losgetreten wurde, als Mursi noch im Amt war, erscheint mir persönlich völlig verfehlt. Ja, es stimmt, dass da ein demokratisch gewählter Präsident mit Hilfe des Militärs aus dem Amt gekippt wurde. Ja, und? Vielleicht hilft ja mal ein Blick zurück, ein Blick auf das Ägypten vor ein oder anderthalb oder zwei Jahren. Natürlich hatte niemand die Legitimitätsfrage gestellt, als das Militär Hosni Mubarak stürzte und als Mursi Knall auf Fall Mohamed Tantawi entließ, war das auch nichts weniger als ein Staatsstreich. Aber beide waren nicht demokratisch legitimiert. Allerdings war es doch Mohamed Mursi, der bei seiner Amtsübernahme die Ägypter sogar aufforderte wieder auf die Straße zu gehen, wenn sie mit seiner Amtsführung unzufrieden sind.  Genau das haben sie doch getan. Dafür haben seine Brüder den Demonstranten den Heiligen Krieg erklärt! Was im übrigen, nach der von den Muslimbrüdern durchgepeitschen Verfassung, den Tatbestand des Hochverrats darstellt. Mursi hat sie nicht einmal zur Rechenschaft gezogen.

Mit ihrer Revolution vom Frühjahr 2011 sind die Ägypter auf den Geschmack der Demokratie gekommen. Allerdings ist das keine Demokratie, die wie soutierte Wachtelbrüstchen mit lauwarmer Brunnenkresse daher kommt, sondern wie ein derber über dem Spieß gebratener Hammelbraten, aus dem man sich mit der Hand ein Stück rausreißt. Die ägyptische Demokratie ist (noch) archaisch und – ja vielleicht auch anarchisch (nicht anarchistisch!!) – aber es ist eben doch eine Demokratie.

Als ich vor anderthalb Jahren für „Koulou Tamam“ recherchiert habe, hatte ich ein langes Interview mit Housam, einem Koch aus Hurghada, der aus Souhag im Niltal stammt. Daran mußte ich gestern wieder denken. Soviele Experten haben in den letzten zwei Jahren so schlaue Dinge gesagt – und sich so gründlich geirrt. Ich selbst nehme mich da weiß Gott nicht aus. Aber heute kommt mir das, was Housam damals im Januar 2012 zu mir sagte doch sehr prophetisch vor:

Chefkoch Housam Foto: psk

Chefkoch Housam
Foto: psk

„Wir haben keine Angst vor der Zukunft. Warum auch? Egal, wer jetzt an die Regierung kommt, ob Islamisten, Liberale oder sonst wer, sie müssen die Situation für die Menschen verbessern. Das heißt, sie müssen genug zu essen und ein vernünftiges Dach über dem Kopf haben. Wenn sie das nicht schaffen, stehen eben wieder Millionen auf dem Tahrir und verjagen sie. Dann kommen eben die nächsten dran.“ (Koulou Tamam Ägypten, Carpathia-Verlag Berlin, 2012)

Nun ist Housam kein verkopfter Politiker, kein spitzfindiger Analytiker, sondern ein einfacher, sehr frommer aber auch durchaus reflektierter Mann aus dem einfachen Volk. Das, was er vor anderthalb Jahren zu mir sagte, reicht doch völlig aus als Legitimation für das, was gestern passiert ist. Den Ägyptern geht es heute schlechter als zu Zeiten Mubaraks. Da hätten sie ihn auch gleich behalten können. Nein – die überwiegende Zahl des Volkes sah sich an den Rand der Existenz gedrückt und hat meines Erachtens und völlig zu Recht in Notwehr gehandelt – und das Militär hat – ebenfalls völlig zu Recht – das Volk darin unterstützt. Dass das Militär nur an zwei Dingen interessiert ist, an der Wahrung seiner Privilegien und denn 1,4 Milliarden jährlich aus den USA… geschenkt.

Man muss dem Militär aber eines zu Gute halten. es hat aus dem zweieinhalbjährigen Desaster gelernt. Wenn die Pressekonferenz gestern ein Zeichen für die Zukunft war, dann geht Ägypten goldenen Zeiten entgegen. Nach Sissi sprach der Sheik der Al Ahsar Universiätet und nahm damit den Moslembrüdern die Legitimität, im Namen des Islam zu sprechen, sprach El Baradei für die Säkularen, und stand als Symbol, dass die zerstrittene Opposition nun mit einer Stimme sprechen will, sprach Papst Tawadross II., das Oberhaupt der koptischen Christen und brachte damit in Erinnerung, dass die christliche Minderheit ebenfalls eine wichtige Rolle in Ägypten spielen sollte, sprach ein Vertreter der Jugend, die ja nicht ganz zu unrecht glaubte, dass ihr die erste Revolution gestohlen worden sei – und dann die größte Überraschung, sprach ein Vertreter der Salafisten. Und das muss für die Moslembrüder der niederschmetterndste Anblick an jenem Abend gewesen sein. Selbst die vermeintlich noch viel sittenstrengeren Glaubensbrüder lassen sich in ein Bündnis der nationalen Einheit einbinden.

Dieses Bündnis wurde ja nicht gestern Abend vor den Fernsehkameras geschmiedet, sondern schon vermutlich zwei Tage zuvor. Die Muslimbrüder waren dazu eingeladen. Sie waren die einzige gesellschaftliche Gruppe, die dieser Einladung nicht gefolgt sind. Man kann es also auch so sehen, dass sich der Präsident von seinem Volk abgewendet hat. Dann muss er sich nicht wundern, wenn er davon gejagt wird.

Ich habe an dieser Stelle schon das ein oder andere Mal die Opposition kritisiert, weil sie lieber weggelaufen ist und Demonstrationen organisiert hat, statt auf dem parlamentarischem Weg zu kämpfen. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Aber auch das kann die gestrigen Ereignisse nicht diskreditieren. Das ganze war nach meiner Ansicht aus demokratischer Hinsicht völlig okay.

Wenn das der amerikanische Präsident ausgerechnet am 150. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg anders sieht, ist das schon sehr traurig. Sein Idol Abraham Lincoln hat sogar einen vierjährigen Bürgerkrieg – der dank der Umsicht der Militärs den Ägypten jetzt hoffentlich erspart bleibt – geführt, um die Demokratie zu retten. Vier Monate nach der Schlacht weihte Lincoln den Soldatenfriedhof in Gettysburg ein. Dabei sprach der nur zweieinhalb Minuten lang und seine Rede umfaßte gerade mal 200 Worte. Die letzten Worte lauteten: „Auf dass diese Nation, unter Gott, eine Wiedergeburt der Freiheit erleben – und auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge.“ Mabruk ya Masr.

 

Kommt jetzt die Ruhe nach dem Sturm?

Nach jetzigem Stand hat es in der Nacht sieben Tote gegeben. Schlimm genug, aber bedenkt man, wieviele Menschen im ganzen Land auf der Straße waren, da ging es doch eigentlich glimpflich ab. Die Berichterstattung in Deutschland war mal wieder zwischen kurios und Zum-Haare-Raufen. Der neue Korrespondent des ZDF, Thomas Ader, stammelte mehr als das er sprach – der arme Kerl stand offenbar Todesängste aus. Als ein oder zwei Armee-Hubschrauber tief über den Tahrir flogen, stellte er fest, dass die Stimmung gekippt sei, weil die Menge gejohlt habe – was immer er damit sagen wollte. Es kam jedenfalls so an, als hätten die Demonstranten Angst vor dem Militär. Hm. Soviel zur Sachkunde deutscher Korrespondenten.

Vor zwei Jahren haben wir in Deutschland gelernt, dass auf den Tahrir 300.000 bis 400.000 Menschen passen. Es hätte eigentlich ein Leichtes sein müssen, die Menschenmassen auf und um den Tahrir zu schätzen. Wenn die Nilbrücke und die Corniche zum Platzen voll sind und ebenso die Straße die zum Tahrir führen, ist es einfach mal Volkverdummung, wenn  es in einem öffentlichen-rechtlichen Sender in den Hauptnachrichten heißt: „Einige Zehntausend Menschen haben sich auf dem zentralen Tahrirplatz versammelt, um gegen den ägyptischen Präsidenten Mursi zu demonstrieren.“ Mein Gott, was für ein schlechter Journalismus! Immerhin, im Morgenmagazin der ARD war davon die Rede, dass es vielleicht die größte Demonstration war, die das Land je gesehen hat. Als größte „Demonstration“ gilt noch immer die Beerdigung von Gamal Abdel Nasser. Damals sollen fünf Millionen Menschen den Trauerzug gebildet haben. Falls jemand sich für meine Schätzung interessiert: Drei bis vier Millionen werden es auf und um den Tahrir gewesen sein. Ich lass mich aber gerne belehren.

Aber das Köpfe Zählen ist ja vielleicht nicht das spannenste. Erschreckender fand ich viel mehr, dass die Anhänger Mursis – zumindest in den Beiträgen, die ich gesehen habe – alle mit Helm, Schild und mindestens Schlagstöcken bewaffnet waren. Das sagt eigentlich alles. Allerdings, der Einwand gilt ja auch, wir wissen nicht, ob da gerade eine Gruppe von zehn Salafis ein schönes Motiv für einen Kameramann darstellten und genau diese Sequenz X-Mal um den Globus wanderte. Trotzdem bleibt ja wohl auch eines klar: Ich habe bislang noch von keinem Oppositionellen gehört, dass man die Moslembrüder umbringen müsste. Von der anderen Seite hörte sich das schon viel bedrohlicher an.

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee. Foto: Ashraf Sahleh

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee.
Foto: Ashraf Sahleh

Ein weiterer Punkt, der mich sehr überrascht und auch gefreut hat: Erstmals gab es in Hurghada eine sehr große und offensichtlich auch sehr friedliche Demonstration mit Volksfestcharakter. Manch einer wird das mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen haben. So friedlich das auch gewesen sein mag, die Reiseveranstalter haben diese Bilder sicher nicht gerne gesehen. Trotzdem: es war richtig. Sind wir doch mal ehrlich: der Tourismus macht Ägypten derzeit zu einem zweigeteilten Land. Das Niltal wird gemieden. Fast alle Kreuzfahrschiffe liegen still. An der Küste ist alles friedlich und da hoffen sie nur, dass in Kairo nicht all zu laut demonstriert wird, damit nicht auch noch die letzten Gäste am Roten Meer verscheucht werden. Dabei hat der Tourismus von der Revolte gegen Mursi am meisten zu gewinnen. Setzen sich der und die Brüderschar durch, dann wird die Islamisierung des Fremdenverkehrs nur noch eine Frage der Zeit sein.

Doch nun? Was tun? Spannend wird sein, was nach dem Ultimatum, das am Dienstag um 17 Uhr abläuft, passieren wird – oder eben auch nicht. Natürlich wird Mursi nicht weinend zurücktreten. Aber wenn er es nicht tut, dann ist kompletter ziviler Ungehorsam angesagt. Das klingt nach Generalstreik. Der würde das Land dann wirtschaftlich komplett zusammenbrechen lassen. Das müßte dann aber konsequenter Weise sofort das Militär auf den Plan rufen, weil ja fast die Hälfte aller Fabriken ihm gehören. Vielleicht ist das ja das Kalkül. Möglicherweise kommt nach dem Sturm jetzt die ganz große Ruhe, weil das Land plötzlich still steht. Und das ist viel bedrohlicher für die Regierung als zehn Großdemos in Kairo. Stillstand könnte jetzt Kollaps bedeuten. Aber vielleicht braucht es das ja, vielleicht muss es erst kollabieren, damit man von vorne anfangen kann.

Was das Land jetzt bräuchte, wäre ein ehrlich Makler. Einen, der die tief gespaltenen Gruppen wenigstens dazu bringt, miteinander zu reden. Doch woher soll der kommen? Die Ägypter sind viel zu stolz, um einen Ausländer zu akzeptieren. Ich dachte erst an jemand wie Boutros Boutros-Ghali. Der ist allerdings 91 und ich weiß nicht ob er gebrechlich und dement oder noch fit und geistig rege ist. Na ja, Georgio Napolitano  ist zwei Jahre jünger und hat Italien gerade mal wieder vor dem Untergang gerettet. Doch an einer Personalie wie Boutros-Ghali zeigt sich das ganze Dilemma. Der wird von den Brüder aus einem Grund nie akzeptiert werden: Er ist Kopte. Die beiden Lager sind nicht einmal in der Lage einen Vermittler zu finden. Miteinander reden tun sie nicht, weil sie einander zu tiefst misstrauen.

Doch über all die Gräben hinweg müßten sie doch auch über Gemeinsamkeiten zueinander finden. Die einzige Industrie, die in Ägypten derzeit Hochkonjunktur haben dürfte, ist die Wimpel- und Fahnenwirtschaft. Alle schwenken sie doch gerade die ägyptische Flagge, egal zu welcher Gruppierung sie gehören. Das heißt sie gehen aus Liebe zu ihrem Land auf die Straße. Das wäre doch schon einmal ein Anfang.

Aufgeben gilt nicht

Vor mehr als einem halben Jahr habe ich in diesem Blog den letzten Beitrag veröffentlicht. Nach einem Jahr dachte ich, dass es jetzt mal gut sein müsste. Allerdings war mir aber, angesichts der ägyptischen Politik – darf man dieses Chaos überhaupt so benennen? – auch die Lust vergangen, noch weiter zu schreiben. Außerdem kam ich mir ziemlich bescheuert vor. Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang daran geglaubt, dass die Moslembrüder die Kurve bekommen würden. Am Ende behielten die Recht, die von Beginn an vor der Bruderschaft gewarnt hatten.  Doch selbst die sind nun von dem Ausmaß der Konfusion ziemlich überrascht.

Gute Nacht, Ägypten?

Gute Nacht, Ägypten?

Diejenigen, die den Brüdern zutrauten, das Land zu ordnen oder wenigstens richtig zu verwalten, verwiesen ja nicht ohne Grund darauf, dass die Bruderschaft, die in diesem Jahr immerhin 85 Jahre(!) alt wird, stehts straff geführt und sehr gut durchorganisiert war. Und nur dieser Organisationsgrad habe es möglich gemacht, dass die Moslembrüder auch in der Zeit, da sie verboten waren, effektiv weiter arbeiten konnten und sogar wuchsen.

Von höherer Organisation- und Verwaltungskunst ist heute bei den Brüderen nichts mehr zu erkennen. Im Gegenteil. Die Versorgungslage wird von Tag zu Tag schlechter. Das Stromnetz steht vor dem Kollaps, die Produktion wird immer geringer, die Preise explodieren, die Einnahmen aus dem Tourismus brechen weg, das ägyptische Pfund zerfällt (aktueller Kurs heute: 1:9,36). So ziemlich jedes Gebiet in Wirtschaft und Gesellschaft ist heute deutlich schlechter dran, als zu den Zeiten Mubaraks. Auch Sitten und Moral verfallen – was nun ausgerechnet bei den islamischen Sittenwächtern seltsam anmutet. Im Februar wurde ich auf dem Flughafen in Hurghada Zeuge einer unfassbar bizarren Szene: Da kam es zu einer Prügelei zwischen Angehörigen des Sicherheitspersonals, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, welches von drei Durchleutungsgeräten für die Passagiere benutzt werden sollte (Für alle, die sich auskennen: Das ganze spielte sich zwischen Passkontrolle und Duty-Free-Bereich ab).

Die jüngsten Schlagzeilen aus Ägypten sind auch alles andere als ermutigend. Mursi hat acht neue Gouverneure ernannt. Besonders „feines Gespür“ bewies er bei der Ernennung des Gouverneurs von Luxor. Adel Asaad al-Chajat gehört zur Gamaa al Islamiyya und damit zu der Organisation, die 1997 für das fürchterliche Blutbad am Hatshepsuttempel vor den Toren von Luxor verantwortlich gemacht wird.

Aussicht auf Besserung? Viele Ägypter schielen teils hoffnungsvoll, teils angstvoll auf den 30. Juni. Da sind in Kairo wieder große Proteste angekündigt. Mittlerweile schwirrt schon das Wort von der „Zweiten Revolution“ durchs Internet. Als hätten sie von der ersten noch nicht genug. Und dann ist da noch die Sache mit dem Militärputsch. Selbst überzeugte Demokraten sehnen sich den inzwischen herbei, weil sie glauben, dass dann wieder Ruhe und vor allem eine gewisse Ordnung im Land einkehren. Aber die Militärs zieren sich. Sie müssten ja dann Verantwortung übernehmen, das haben sie ja schon nicht getan, als sie in Form des Obersten Militärrats (SCAF) an der Macht waren. Mursi und seine Brüder haben im letzten Jahr schon weiß Gott viel Unheil angerichtet. Aber was der SCAF hinterlassen hatte, war auch alles andere als ein geordnetes Haus. Und dann noch eines: Als Mursi vor einem Jahr den greisen Feldmarschall Tantawi kurzerhand vor die Tür setzte, ordnete er auch den Militärrat neu. Nun muss man sicher nicht dreimal raten, wieviele Kritiker Mursis oder der Moslembrüder in dem höchsten Militärgremium sitzen.

Eine andere ägyptische Hoffnung stirbt derzeit jenseits des Mittelmeeres auf dem Taksimplatz in Istanbul. Rund zehn Jahre lang hat in der Türkei eine islamische Partei der Welt gezeigt, dass sie auch Demokratie kann – und das noch mit bis zu neun Prozent Wirtschaftswachstum. Das Thema dürfte nun auch begraben werden. Die Türkei als Vorbild für Ägypten? Fatalerweise scheint es ja umgekehrt zu sein. Erdoğans Rhetorik erinnert fatal an Mursis Geschrei mit dem Tenor „Wir haben die Mehrheit, wir dürfen alles“.

Wenn ich auf die Blogbeiträge vom vergangenen Jahr schaue, dann waren sie am Anfang eigentlich sehr von Hoffnung und Zuversicht getragen und wurden – analog zur politischen Entwicklung – immer pessimistischer. Natürlich ist der Frust groß, dass meine optimistischen Prognosen nicht eingetroffen sind. Aber vielleicht ist es auch inkonsequent, der ägyptischen Opposition vorzuwerfen, dass sie lieber wegläuft, als sich im Parlament beschimpfen zu lassen, und selbst in Schweigen zu verfallen, weil die eigenen Prophezeiungen kläglich danebengegangen sind. Aufgeben gilt nicht. Das sollte ich eigentlich von all den Freunden in Ägypten gelernt haben, die dort Fuß gefasst haben und allen Widrigkeiten zum Trotz im Land bleiben und weitermachen. Also: Ab jetzt an dieser Stelle wieder mehr – und dank an alle, die mir dazu einen kleinen Tritt gegeben haben. Dann sollte ich es in Zukunft halten wie Mark Twain: Ich mache keine Vorhersagen, schon gar nicht, wenn sie die Zukunft betreffen.

Mursi, Lincoln und der Weihnachtsmann

Ägypter zu verstehen ist für Europäer nicht immer leicht, auch für mich nicht. Doch manchmal verstehe ich Europäer, die in Ägypten leben, noch weniger. Geradezu bizarr erscheint mir, wie derzeit der ägyptische Präsident Mohammed Mursi bewertet wird. Vor allem die Korrespondenten scheinen mir merkwürdig in ihren Analysen. Der Spiegel sieht in ihm einen neuen Pharao, die ARD spricht davon, dass er eine größere Machtfülle habe, als Mubarak sie jemals gehabt habe. Von einer neuen Diktatur ist die Rede. Auf Blogs in in Foren wird eifrig darüber diskutiert, ob Mursi seine Moslembrüder nun wirklich in alle nur denkbaren Schlüsselpositionen boxen will. Kommen auf Ägypten nun ganz schlimme Zeiten zu?

Baut Mohammed Mursi das Amt des Präsidenten zur islamistischen Trutzburg aus? (Fort des Sultan selim in El Qesir)

Vielleicht lohnt es einfach mal, sich die letzten Wochen und Monate genauer anzusehen. Bislang hat Mursi nichts von dem getan, was man ihm unterstellt hat. Im Gegenteil. Er hat sowohl die eigenen Landsleute, als auch die Welt überrascht. Da war die Entmachtung des Militärrats, der beeindruckende Auftritt bei der Vorversammlung der Blockfreien, das Verbot, Journalisten beim Verdacht der Präsidentenbeleidigung in Untersuchungshaft zu nehmen und jetzt gerade der Waffenstilstand zwischen Palästinensern und Israelis (mal sehen wie lange der hält). Der Generalstaatsanwalt Abdel Meguid Mahmud, der ihm vor wenigen Wochen noch getrotzt hatte und nur „als Leiche“ seinen Posten verlassen wollte, ist nun auch weg. Gerade das sei der Beleg dafür, dass Mursi nach Exekutive und Legislative nun auch noch die Judikative an sich gerissen habe. Nun hatte aber eben jener Generalstaatsanwalt eine doch recht große Nähe zum alten Regime Mubarak erkennen lassen. Die, die Mursi die Entlassung Mahmuds vorwerfen, beklagen sich andererseits darüber, dass die Mubarak-Ära nur unzureichend von den Gerichten aufgeklärt wird.

Dass er die Legislative nun im Zaum hält, ist bislang noch nicht zum Schaden für das Land gewesen. Im Parlament sitzen zwei Drittel Islamisten. Die meisten davon gehören zu seiner Klientel. Genau die hält er doch in Schach, damit sie nicht noch größeren Unsinn anrichten. Mit einigermaßen großem Entsetzen mag sich der eine oder andere vielleicht noch an Gesetzeseingaben der Salafistenpartei El Nur erinnern (Wie lange darf ein Mann nach dem Tod seiner Frau noch Verkehr mit ihr haben?). Entscheidend wird natürlich sein, wann es dann tatsächlich zu Neuwahlen kommen und wie stark dann das neue Parlament sein wird.

Bislang zielten die Vorwürfe gegen Mursi nur auf das, was er bis dato nicht getan hatte – nämlich einen großen Teil seiner Wahlversprechen einzulösen – und das was er vielleicht als gewesener Moslembruder tun könnte. Nun steht also der Vorwurf im Raum, dass er sich diktatorische Vollmachten angeeignet habe. Um damit was zu tun?

Ägypten steht vor kaum lösbaren Problemen. Da ist die Überbevölkerung aus der eine Ernährungs- und Energiekrise erwächst, die im Frühjahr möglicherweise erst ihren Höhepunkt erreichen könnte, wenn die Weltmarktpreise für Getreide in die Höhe schnellen. Da ist die Bildungsmisere, das marode Gesundheitssystem – und vor allem sind da die leeren Kassen. Ägypten wäre faktisch pleite, wenn da nicht noch ein wenig Geld aus den USA kommen würde. Vielleicht wäre es für Mursi ja einfacher, die Knete in Saudi Arabien oder Katar abzuholen. Hat er aber bislang vermieden. Warum wohl nur?

1860 wählten die Amerikaner Abraham Lincoln zum Präsidenten, in der Hoffnung, er werde Sezession und Bürgerkrieg vermeiden. Als er daran scheiterte, setze er alles daran, die Union wieder herzustellen. Er maßte sich ebenfalls diktatorische Vollmachten an. Er missachtete den Kongress, ignorierte die Gerichte und trickste sogar bei der Sklavenbefreiung. Hat er das alles getan, weil es ihm Spaß gemacht hat? Zeitzeugen sagen, dass er alles andere als ein Diktator war, aber auch keine andere Alternative zu seinem Handeln gesehen habe.

Es ist schon erstaunlich, was sich für Parallelen zwischen den beiden auftun. Beide stammen aus einfachen, ländlichen Verhältnissen. Beide wurden von ihren Parteien als Kompromisskandidaten für die Wahl des Präsidentenamtes aufgestellt. Beide wurden für ihr Kommunikationsverhalten belächelt. Beide banden ihre politischen Gegner in ihr Kabinett ein, und beide zeichnet ein Hang zu überraschenden politischen Entscheidungen aus. Beide standen vor der Aufgabe, eine existenzbedrohende Krise in ihrem Land zu meistern. Und beide scheinen sich dazu diktatorischer Mittel zu bedienen. Außerdem vermute ich, dass Mursi die gleiche persönliche Bescheidenheit auszeichnet, wie sie Lincoln nachgesagt wird.

Nicht wenige Europäer haben sich nach dem Sturz Mubaraks hinter vorgehaltener Hand darüber beklagt, dass jetzt die Sicherheit und Berechenbarkeit in Ägypten völlig zum Teufel gegangen sein. Andere behaupten gar klipp und klar, dass die Ägypter gar nicht zu einer Demokratie fähig seinen und sich im tiefsten Inneren ihres Herzens ja doch nur einen starken Mann wünschen. Tja – nun ist er überraschend da – und dann ist es wieder nicht recht?

Jeder, aber auch wirklich jeder, den ich kenne, wünscht sich, dass das arme Land endlich wieder in ruhiges Fahrwasser gerät, dass seine immensen Problemberge endlich abgebaut werden. Doch ist es wirklich realistisch, dass dies mit einem so besetzten und demokratisch legitimierten(!) Parlament überhaupt möglich ist? Man könnte es ja probieren – oder genauso gut auf den Weihnachtsmann warten. Der wird es dann auch schon irgendwie richten.

Durchgreifende und wirksame Reformen müssen schnell kommen, denn das Land hat keine Zeit mehr. Im Frühjahr stehen sie alle da: Der IWF, die Lebensmittelspekulanten, die Ölscheichs – und alle werden sie die Hand aufhalten oder auf Haushaltskürzungen drängen. Wie soetwas dann in einem zerstrittenen Parlament weitergeht, hat die Welt jetzt ein paar Jahre lang in Griechenland besichtigen können.

Man mag Mursi mögen oder nicht. Man mag ihm vertrauen oder nicht. Aber er ist im Moment der Einzige, den sie haben. Er muss die Karre jetzt wieder aus dem Dreck ziehen. Sonst wird das auf Dauer keiner tun.

Warum Ägypten kein islamistischer Gottesstaat wird

Was den neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi betrifft, war ich lange Zeit hin und her gerissen. Ich fragte mich, ob der neue Präsident ein Vollidiot oder vielleicht doch ein begnadeter Politiker ist. Ersteres stimmt offensichlich nicht, zweiteres steht noch aus. Allerdings hat Mursi in den letzten vier Wochen mit drei Aktionen überrascht:

  1. Er hat mit einem Handstreich den Militärrat entmachtet und dessen Vorsitzenden Mohammed Tantawi kaltgestellt.
  2. Er hat einen moslembrüder-kritische Journalisten aus dem Knast geholt, der dort in U-Haft wegen des Verdachts der Präsidentenbeleidigung saß.
  3. Er hat Irans Präsident Achmadinedschad während er Konferenz der Blockfreien in Teheran brüskiert und isoliert.

Seine Kritiker sind einigermaßen verblüfft. Doch ihre Gegenargumente beruhen derzeit nur auf Mutmaßungen und Aussagen aus Mursis Vergangenheit, konkret im Wahlkampf. Zumindest seine bisherigen Taten sprechen eine andere Sprache. Grundsätzlich gilt wohl eines: Obwohl Mursi offiziell die Moslembrüder verlassen hat, bleibt er natürlich ein frommer und wohl auch sehr konservativer Moslem – was im Übrigen der im Westen so hochverehrte Anwar al Sadat auch war, dessen Zibeba so echt wie unübersehbar war. Sadat war es übrigens, der die ägyptische Verfassung durch ein ganz entscheidendes Wort veränderte, nachdem nämlich Koran und Scharia nicht eine, sondern die Quelle des ägyptischen Rechts seien. Man möge sich den weltweiten Aufschrei vorstellen, wenn Mursi etwas Ähnliches verfügen würde. Das wird er freilich kaum tun. Wer allerdings glaubt, dass die drei genannten Punkte nur eine große Show waren, um den Westen ruhigzustellen, der könnte nicht falscher liegen. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits spielt der Westen in Mursis außenpolitischer Strategie eine eher untergeordnete Rolle, andererseits lohnt es sich, die Hintergründe der drei spektakulären Entscheidungen genauer zu betrachten.

Tantawis Sturz war ein Geniestreich, der allerdings direkt mit dem Grenzzwischenfall im Sinai zusammenhängt, bei dem 16 ägyptische Soldaten ums Leben kamen. Für Ägypten ganz besonders peinlich: ausgerechnet die Israelis – denen einige Hardliner den Zwischenfall in die Schuhe schieben wollten – haben die ägyptischen Militärs vor dem Anschlag gewarnt. Passiert ist offenbar nichts. Kurze Zeit erregten sich die Ägypter darüber, dass Mursi nicht einmal zur Beerdingung der 16 Soldaten kam. Was wie eine unfassbare Stoffeligkeit aussah, entpuppte sich bald als gerissener Winkelzug. Dadurch, dass Tantawi alleine bei der Trauerfeier erschien, wurde der Blick auf ihn und dadurch auch auf die Frage nach der Verantwortung gerichtet – die Mursi wenige Tage später auf sehr eindrückliche Art beantwortet hatte. Nicht einmal in der Armeefühung erhob sich auch nur noch ein Finger für Tantawi. Offiziell machte Mursi ihn zu seinem Berater, verlieh ihm einen Orden und verabschiedete ihn mit allen Ehren. So elegant wurde noch selten der eigentliche Führer eines Landes aufs Abstellgleis geschoben.

Freie Bahn also für die Islamisten? Noch vor zwei Wochen gab es Befürchtungen, dass die Demonstrationen gegen die Macht der Moslembrüder am 24. August zu blutigen Ausschreitungen führen könnten, zumal ein Imam oppositionelle Demonstranten buchstäblich zum Abschuss freigegeben hatte. Es blieb bei den Demonstrationen gegen die Moslembrüder erstaunlich ruhig. Nicht nur das. Kurz zuvor hatte Mursi per Dekret verfügt, dass der Journalist Islam Affifi aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei, in die er nur Stunden zuvor gesperrt worden war. Mursi ging sogar noch weiter und verbot in Zukunft jede Untersuchungshaft für regierungskritische Journalisten. Mursi-Kritiker monieren allerdings, dass der Prozess gegen Affifi und andere fortgesetzt werde.

Und dann war da noch die Reise zu den Blockfreien nach Teheran. Der Westen geriet schon in Schnappatmung bei dem Gedanken daran, dass Mursi dem Teufels-Perser Achmadinedschad die Hand geben könnte. Eine mögliche Koalition des Moslembruders mit den radikalislamischen Jüngern Chomenis wurde da an die Wand gemalt. Mursi dürfe auf keinen Fall nach Theran zum Vollversammlung der Blockfreien reisen – dessen Präsidentschaft Muris übrigens turnusgemäß übernahm. Mursi reiste, gab seinem „lieben Bruder“ ordentlich das Pfötchen – und watschte die Gastgeber wegen ihrer Syrienpolitik dann dermaßen ab, dass das iranische Staatsfernsehen in der Simultanübersetzung das Wort Syrien konsequent durch das Wort Bahrain ersetze, was in Bahrain wiederum zu Entsetzen führte. Das alles wäre dem Westen erspart geblieben, wenn Mursi nicht nach Theran gefahren wäre. Tja – hinterher ist man immer schlauer, zumal ganz offenbar bei Mohammed Mursi.

Aber das alles sind ja noch keine stichhaltigen Gründe dafür, dass er sein Land nicht zu einem islamistischen Gottesstaat machen will. Doch die Beispiele zeigen zumindest, dass Mursi ein ganz gewiefter Taktiker und offensichtlich ein ziemlich schlauer Fuchs ist. Dass eine seiner wichtigsten Aufgaben sein wird, das Land und seine Menschen zu einen, musste ihm niemand sagen. Er tut es auf eine interessante Art und Weise. Er fördert ganz offensichtlich den ägyptischen Nationalismus. Da gleicht er dann doch eher einem Gamal Abdel Nasser als einem Ajathollah Chomeni. Mit der Forderung nach Ägyptens Stärke und einer Führungsrolle in der Arabischen Welt kann Mursi über alle Parteigrenzen Punkte machen.

95 Prozent Ägyptens besteht aus Wüste.
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Und dann? Von nationalistischen Parolen oder Taten wird die Versorgungslage nicht besser, ändert sich nichts im Bildungssystem und auch das Gesundheitssystem gesundet davon nicht. Das vielleicht größte Problem überhaupt ist die nach wie vor explosionsartig wachsende Bevölkerung. Offziell wird noch immer von 80 Millionen Ägyptern gesprochen. Vor kurzem postete der in Kairo wirkende katholische Geistliche Msgr. Joachim Schroedel eine ganz andere Zahl. Und die wird ja einem Mohammed Mursi auch nicht verborgen bleiben. 91 Millionen Ägypter, davon leben 83 Millionen im Land – in einem Land, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht. Ägypten, einst die Kornkammer des Römischen Reiches – kann seine Bürger nicht mehr selbst ernähren. Der Energieverbrauch liegt etwas 20 Prozent über dem, was Ägypten selbst produziert. Selbst wenn es zu einer wirtschaftlichen Gesundung kommt, frißt das Bevölkerungswachstum die Früchte sofort wieder weg.

Natürlich weiß das ein Mohammed Mursi auch. So fromm und konservativ er auch sein mag – er scheint einen sehr analytischen Verstand zu haben. Eine streng konservativ-islamische Sozialstruktur ist mit dem Ziel, das Bevölkerungswachstum zu beschränken, schlechterdings unvereinbar. Eines hat die Geschichte gezeigt: Gegen eine Bevölkerungsexplosion helfen weder Ein-Kind-Politik noch Kondome oder fromme Worte. Nur eine nachhaltige Steigerung des Lebensstandards für die große Masse der Bevölkerung wird das Wachstum eindämmen können. Dazu braucht Mursi aber alle Ägypter und nicht nur die Moslembrüder. Und über alle Religionsgrenzen hinweg gilt ja auch eines: Weder der Koran noch die Bibel haben ein Rezept gegen diese Bedrohung. Deshalb heißt es wohl zusammenzuarbeiten.

Die sind doch alle gleich

Ist das nicht komisch? Der Satz „Alle Menschen sind gleich“ klingt schön, klingt völkerverbindend und politisch korrekt. Man ersetze nun das Wort Menschen durch Moslems. „Alle Moslems sind gleich.“ Das klingt schon weniger schön. Das impliziert, alle Moslems seien potentielle Terroristen, und der Satz müffelt auch ein wenig nach Rassismus. Trotzdem habe ich diesen Satz gestern Abend von einer Bekannten gehört, die ganz und gar nicht im Ruch steht, rassistisch zu sein. Es ging um den arabischen Frühling um die Revolutionen in Tunesien, Libyen und Ägypten – und natürlich um den Bürgerkrieg in Syrien.

Ihre These klang ziemlich einfach. Egal, was wo in welchem Land in Arabien passiert, am Ende wird sich der Islamismus in seiner radikalen Weise durchsetzen – also in Form zum Beispiel des Salafismus‘. Dafür bekam sie am Tisch auch noch entsprechende Unterstützung. Ich wandte ein, dass man dann genausogut bei der Euro- und Finanzkrise Länder wie Finnland und Griechenland, Holland und Spanien, Irland und Österreich oder Frankreich und Deutschland in einen Topf werfen könnte – sind ja alles Europäer. Tatsächlich gibt es in all diesen Ländern völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Krise zu lösen sein und sehr kontroverse Auseinandersetzungen darüber.

In den arabischen Ländern sieht es nicht viel anders aus. So sind zum Beispiel die jungen Monarchen Mohammed VI. von Marokko und Abdallah II. von Jordanien mit der Arabellion ganz anders umgegangen, als zum Beispiel Bashir al-Assad in Syrien. Das Ergebnis dürfte sogar den meisten Europäern bekannt sein. Natürlich gibt es auch in Marokko und in Jordanien eine größere Hinwendung zur Religion, aber von einem islamistischen Gottestaat sind beide Länder wohl weit entfernt.

Das gleich gilt auch für Ägypten. Moslembrüder hin oder her. Am vergangenen Dienstag ging es in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ weitgehend um Syrien, doch einen beträchtlichen Teil der Sendung machte auch Ägypten aus. Unter anderem war der deutsche Lehrer Günter Förschner eingeladen, der an einer deutschen Mädchenschule in Alexandria unterrichtet. Er war schon ein Jahr zuvor Gast bei Frank Plasberg gewesen. Nun bezeichnete der Lehrer die Moslembrüder als größtes Risiko für die Demokratisierung in Ägypten. Prompt handelte er sich Widerspruch vom ARD-Korrespondeten Jörg Armbruster ein. Es sei tatsächlich der Militärrat der die Demokratisierung des Landes gefährde. Armbruster gab zu, dass er die Moslembrüder auch nicht besonders schätze, aber dass sie immerhin als Sieger aus der ersten freien demokratischen Wahl in diesem Land hervorgegangen sind, das es jetzt auch schon 7.000 Jahre gebe.

Niemand kann seriös voraussagen, wie sich der arabische Frühling wirklich entwickeln wird. Die einzige Prognose, die mit Sicherheit eintreten wird, ist die, dass es eben in jedem Land unterschiedlich passieren wird. Es in in letzter Zeit Mode geworden, Tunesien und Ägypten, so wie ihren Weg zur Demokratie zu vergleichen und das Urteil fällt häufig sehr undifferenziert aus. In beiden Ländern hätten die Religiösen die Revolution für sich gekapert und würden das Land nun wenn nicht in einen Gottesstaat, so doch zu einem autokratischem Regime führen. Das gleiche wurde auch für Libyen vorhergesagt. Dumm gelaufen, denn bei den Wahlen vor wenigen Tagen gab es eben keinen haushohen Sieg von Gotteskriegern, sondern einne Erfolg der Liberalen.

Und dann noch zu der wohlfeilen Legende der ersten freien Wahlen in arabischen Ländern. Nein, die waren kein Produkt des arabischen Frühlings und kein Demokratiegeschenk der Amerikaner im besetzten Irak. Gerne wird in Europa unterschlagen, dass es bereits vor 20 Jahren in Algerien freie Parlamentswahlen gab, die dann allerdings – auch auf massiven Druck Frankreichs – abgebrochen wurden, weil sich ein Sieg der islamistischen Partei FIS abzeichnete. Was sollen also die Araber von den Europäern denken? Ja, von den Europäern! Oder ist etwa bekannt, dass der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl – noch völlig besoffen vom Rausch der Wiedervereinigung – seinem Freund François Mitterand in den Arm gefallen wäre, um diesen Anschlag auf die Demokratie zu verhindern? Nein! Die Wahlen wurden annuliert. Diese Aktion hat das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, dem 120.000 Algerier zum Opfer fielen. Heute ist Algerien ein autoritärer Staat, bar jeglicher Demokratie, an dem der arabische Frühling einigermaßen wirkungslos vorbeigegangen ist. Allerdings hat das Land auch einen Präsidenten Bouteflica, der die Algerier miteinander auszusöhnen versucht.

Der ehmalige israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Avi Primor, hat in „Hart aber fair“ übrigens noch auf einen sehr interessanten Aspekt aufmerksam gemacht. Als vor zehn Jahren in der Türkei die islamische AKP an die Macht kam, gelang es ihr relativ schnell, die Macht der Militärs, die seit 40 Jahren faktisch die Türkei beherrscht hatten, zu brechen. Und es gelang ihnen, einen gigantischen Wirtschaftsaufschwung hinzulegen, mit einem jährlichen Wachstum von neun bis zehn Prozent. Niemand würde heute daran zweifeln, dass die Türkei eine moderne Demokratie ist, auch wenn aus Ankara manchmal ein merkwürdiges Brummeln kommt. Im Endeffekt, so glaubt Primor, gehe es ja dann doch immer nur um die Wirtschaft. Oder, wie der frühere US-Präsident Bill Clinton einmal einem Konkurrenten im Wahlkampf an den Kopf warf: „It’s the economics, stupid!“ – „Es geht um die Wirtschaft, Idiot!“

 

Kuscheliger Kollisionskurs

All zu lange, so scheint es, darf Ägypten nicht zur Ruhe kommen. Nach den überraschenden Ereignissen Ende Juni wirkte es, als komme das Land jetzt endlich zum Durchatmen. Nachdem Mohammed Mursi als gewählter Präsident bestätigt war, atmeten die meisten Ägypter erst einmal auf. Dass die Militärs ihm per kaltem Staatsstreich die meiste politische Macht genommen hatten, empörte vor allem die Moslembrüder. Liberale und Säkulare waren zwar erbittert über die Kaltschnäutzigkeit des Militärrates und protestierten gegen Beschneidung der Demokratie, aber insgeheim waren die auch froh darüber, dass die Islamisten jetzt nicht durchregieren konnten. Für Mursi andererseits bot das die Gelegenheit, das Land zunächst einmal im Inneren auszusöhnen. Wenigstens was seine Absichtserklärungen betrifft, begann Mursi ja ganz gut: Zwei Vizepräsidenten, eine Frau und ein Kopte, sollten her und Friedensnobelpreisträger El Baradei sollte Premierminister werden.

Und nun kommt also dieser Hammer: Mursi beruft das suspendierte Parlament wieder ein. Die Militärs sind völlig baff, das Verfassungsgericht komplett konsterniert. Die meisten Säkularen und Liberalen heulen auf. Für sie ist Mursis Vorstoß ein Beweis dafür, dass dem ehemaligen Moslembruder eben doch nicht zu trauen sei. Er habe schließlich angekündigt, nicht nur die Gesetze, sondern auch die höchstrichterlichen Urteile zu respektieren. Allerdings hat das Gericht das Parlament gar nicht aufgelöst. Es hat nur festgestellt, dass ein Drittel der Sitze nicht verfassungsgemäß bestetzt worden seien. Das Verfassungsgericht sagte nicht einmal etwas darüber aus, ob nur ein Drittel der Abgeordneten neu gewählt werden muss, oder ob das für das ganze Parlament gilt. Es war aber der Oberste Militärrat, der die Volksvertreter nach Hause geschickt hat.

Der Verdacht liegt nahe, dass Mursi seinen einstigen Mitstreitern die letzte parlamentarische Macht sichern will. Andererseits sieht sein Zeitplan vor, dass es etwa in einem halben Jahr schon wieder Neuwahlen geben könnte. Dass Moslembrüder und Salafisten bei einer neuen Parlamentswahl derzeit bei weitem nicht so gut abschneiden würden, darf mal getrost angenommen werden. Das zeigte sich ja schon bei den Präsidentschaftswahlen.

Was steckt also hinter Mursis Vorstoß? War das wirklich eine Harakiri-Aktion, wie viele meinen? Es gibt wohl zwei Möglichkeiten: Entweder ist Mursi einfach dumm und komplett fremdgesteuert. Ich glaube das nicht. Oder, und dazu tendiere ich eher, er verfolgt einen Plan. Jeder Präsident, der das Land in eine demokratische Zukunft führen will, muss sich früher oder später mit dem Obersten Militärrat anlegen. Dem steht derzeit noch Feldmarschall Mohammed Tantawi vor. Der wird im Oktober 77 und ist in den letzten anderthalb Jahren oft dadurch aufgefallen, dass er auf markige Worte kleinlaute Rückzieher folgen ließ. So gesehen könnte es sinnvoll sein, den Kampf zu führen, solange Tantawi noch da ist. Wer weiß schon, wer ihm nachfolgen könnte.

Dass der Militärrat keine Interesse daran hat, die Situation eskalieren zu lassen, ist schon daran zu ersehen, dass die Abgeordneten heute vom Militär nicht daran gehindert wurden, ins Parlament zu gehen. Derzeit scheint der Kollisionskurs, den Mursi ansteuert, noch ziemlich kuschelig zu sein. Aber fahren muss er ihn. Es ist doch so: Die Militärs haben den Präsidenten weitgehend entmachtet. Zeigt sich Mursi jetzt als schwach, wird er ganz schnell der Rückhalt bei seinen eigenen Anhängern verlieren. Den braucht er aber dringend, wenn das Projekt der Versöhnung mit Liberalen und Säkularen gelingen soll.

Andererseits ist ja auch nicht so viel passiert. Die Abgeordneten hatten sich mittags für eine Viertelstunde getroffen. Aber was geschieht nun, wenn sie Gesetze beschließen? Dann werden die wohl ganz schnell vom Verfassungsgericht wieder kassiert.

Wie es weiter geht? Jetzt ist demnächst erstmal Ramadan, und da geht gar nichts weiter. Der Politikbetrieb steht weitgehend still. Dann soll es möglichst bald eine neue Verfassung geben – und danach Neuwahlen zum Parlament. Das sagt Mohammed Mursi, der damit indirekt ja zwei Dinge zugibt: 1. Er akzeptiert den Spruch des Gerichtes. 2. Er gesteht ein, dass das Parlament wohl tatsächlich nicht verfassungskonform zusammengestellt ist.

Es bleibt spannend in Ägypten. Eigentlich ist es atemberaubend, diesen demokratischen Selbsfindungsprozess zu erleben. Natürlich wirkt manches improvisiert und chaotisch. Aber ich glaube, dass dieses Land noch zu mancher Überraschung fähig ist.

Mursi muss es machen

Also eines muss man der Alt-Herren-Riege des Militärrats lassen. Sie sind immer wieder für eine Überraschung gut. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist, hätte es wohl niemanden gewundert, wenn nun auf einmal der ihnen nahestehende Ahmed Shafik zum Präsidenten erklärt worden wäre. Nun hat die Wahlkommission verkündet, dass Mohammed Mursi die Präsidentschaftswahlen mit 51,7 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Von zwei Übeln scheint der Vorsitzende der Moslembrüderpartei „Freiheit und Gerechtigkeit“ wohl das kleinere. Shafik hatte im Wahlkampf angekündigt, dass er innerhalb kürzester Zeit Ruhe und Ordnung wiederherstellen wolle, falls er gewählt würde. Das klang doch eher nach einer Drohung. Mursi dagegen kündigte an, einen koptischen Christen – mit Vollmachten – zum Vizepräsidenten zu machen. Das klingt bei weitem weniger bedrohlich.

Immer deutlicher wird, dass sich das Militär in seiner „Staat-im-Staat-Lösung“ verbarrikadieren will. Seine staatstreichartigen Dekrete deuten genau in diese Richtung. Die Rechte des Präsidenten und des (nicht mehr vorhandenen) Parlamentes werden genau an dieser Stelle beschnitten, an denen die demokratischen Institutionen dem Militär weh tun könnten. Ob es unter diesen Umständen ein großes Vergnügen sein wird, als Präsident Ägypten zu regieren, dürfte fraglich sein. Nun muss es Mursi eben machen.

Viele sagen, dass es eigentlich egal sei, ob Mursi oder Shaffik Präsident wird. Ich glaube das nicht. Nun bin ich kein Fan der Moslembrüder, aber ich glaube, dass die Situation, so wie sie jetzt eingetreten ist, die einzige ist, die dem Land nun wieder eine Zukunftsperspektive gibt. Natürlich kann das Militär im Gesetzgebungsverfahren dem künftigen Präsidenten immer wieder in die Parade fahren. Was das Militär jedoch nicht verhindern kann, ist ein Versuch Mursis, das Land zu vereinen. Von einer Regierung der nationalen Einheit ist ja bereits die Rede. Wenn er nun also Kopten und Säkulare mit in die Verantwortung einbindet und es langfristig wirklich zu einer übergreifenden Versöhnung kommt, dann sieht sich der Militärrat plötzlich einer starken Zivilgesellschaft gegenüber. Wie lange er sich unter diesen Umständen dann noch halten kann, wird sich zeigen.

Immerhin hat der künftige Präsident schon angedeutet, dass er diesen Weg gehen will. Allerdings ist das Misstrauen auf der anderen Seite noch groß. Das hat seinen Grund. Die Moslembrüder, die unter dem Mubarakregime am meisten gelitten haben, haben sich erst sehr spät bei den Demonstranten untergehakt und später auch schnell ihre neugewonnene Macht leidlich ausgenutzt. Es hat auch immer wieder Ankündigungen gegeben, die am Ende nicht eingehalten wurden. So wollten die Moslembrüder ursprünglich auf einen eigenen Kandidaten verzichten.

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass Ägyptens neuer Präsident gar nicht so unbeschwert regieren kann. Auf diese Weise hat er vielleicht mehr Zeit für ein großes Versöhnungswerk.

Und dann noch eines. In Ägypten hört man nicht unbedingt gerne, wenn es in den USA irgendetwas angeblich Vorbildliches gibt. Aber eines hat mir bei den Staaten immer sehr gut gefallen. Es ist nach Präsidentschaftswahlen – so schlimm auch die Schlammschlacht gewesen sein mag – ein guter Brauch, dass der Verlierer seine Anhänger auffordert, sich hinter den neuen Präsidenten zu stellen. Wäre vielleicht ganz gut, wenn Ahmed Shaffik eine ähnliche Geste bereit hätte.

Der Untote

Es ist schon ziemlich krass: Da wird Hosni Mubarak gestern Abend für tot erklärt und der Militärrat erweckt in quasi wieder zum Leben. Das erinnert so ein wenig an die Zeiten in der Sowjetunion, wo man den Tod des Generalsekretärs der KPdSU zunächst auch einmal verschwieg. Allerdings hatte das damals den Sinn, dass sich die KP auf eine Nachfolgeregelung einigen konnte. Aber was soll das jetzt? Mubarak hatte doch nach dem Urteil vor drei Wochen gerade mal noch die Rolle eines Sündenbocks. Und die soll er nun komplett komatös bis zum St. Nimmerleinstag spielen? Spätestens jetzt ist ja klar, was seit Wochen und Tagen offensichtlich ist. Das Militär will die Kontrolle nicht abgeben, die Verantwortung aber nicht übernehmen.

Steht Ägypten vor dem Untergang? Vielleicht ja nicht. Aber dem Land steht das Wasser zumindest bis zum Hals.

Dabei könnte man, wenn man gutwillig wäre, sich alles positiv zurecht drehen. Dass das Verfassungsgericht das Parlament für unzulässig erklärt hat, weil ein Drittel der für Unabhängige bestimmten Sitze ein „Raub“ der Moslembrüder wurde, ist juristisch gesehen richtig und demokratisch vielleicht ein Gewinn. Nur zur Erinnerung: Es ist erst ein paar Wochen her, dass in Schleswig-Holstein der Landtag neu gewählt werden musste, weil das Wahlgesetz nicht der Verfassung entsprochen hat. Allerdings hat nach dem Urteil niemand den Landtag verrammelt. Der Militärrat hat das Parlamentsgebäude immerhin gleich mal versiegeln lassen.

Die Zulassung von Shafik zum zweiten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen sah zwar aus wie ein Kotau vor den Militärs, ist aber nur logisch, wenn dem Parlament die Legitimation abgesprochen wird. Das Gesetz, das Shafik von der Wahl ausgeschlossen hätte, stammte ja eben von diesem Parlament.

Das Verfassungsgericht hat also in beiden Fällen durchaus korrekt entschieden. Doch was dann passierte, ist der eigentliche Staatsstreich. Der Militärrat nutzte beide Entscheidungen aus, um sich wieder die komplette Macht zu sichern. Worum es ihm in Wirklichkeit geht, machte er mit dem Eingriff ins Etatrecht überdeutlich, jenem Recht, das in jeder vernünftigen Demokratie als das „Königsrecht“ gilt. Danach hat keine demokratisch legitimierte Institution das Recht, Einblick in den Militärhaushalt zu nehmen – den das Militär im übrigen selbst bestimmt. Es geht also um den Staat im Staat.

Das bizarre Schauspiel um den sterbenden Pharao ist so verräterisch. Warum wollen die Militärs nicht, dass der 84jährige jetzt endgültig von den Bühne des Lebens abtritt? Offenbar glauben sie ja noch immer, sich hinter ihm und seinen Untaten verstecken zu können. Dabei war Mubarak immer einer der ihren. Er selbst war übrigens auch nicht korrupter als sie – korrupter war wohl nur seine Familie. Wenn sie Mubarak noch länger am Leben erhalten wollen, dann entlarvt das am Ende doch nur ihr eigenes schlechtes Gewissen. Es scheint so, als ob sie meinen, diesen Sündenbock noch nötig zu haben. Und das kann alles sehr lange gehen. Mubaraks gleichalter ewiger Widersacher, der einstige israelische Premier Ariel Scharon liegt seit sechseinhalb Jahren im Koma.

Im Moment scheint mir die Situation in Ägypten wieder einmal sehr verfahren. Angeblich sollen die USA hinter den Kulissen „sanften Druck“ auf die Empfänger von 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe im Jahr ausüben. Das muss allerdings nichts gutes verheißen, denn dieser „sanfte Druck“ hat ja nicht mal den fragwürdigen Prozess gegen den Sohn eines US-amerikanischen Ministers verhindert. Aber es ist ja nicht das erste Mal seit Ausbruch der Revolution, dass Ägypten scheinbar vor unlösbaren Problemen steht.

Eigentlich läge die Lösung auf der Hand. Wenn irgendjemand dem Militär verspricht, dass es seine Nudelfabriken, Mineralwasserabfüllanlagen, seine Tankstellen und Ferienclubs behalten darf, dann wird in Ägypten sofort die blühende Demokratie ausbrechen. Das würde in der Tat einen zweiten Staat im Staat erfordern.