Gruppenbild mit Mumie

Aus gegebenem Anlass gibt es hier an dieser Stelle zur Abwechslung einmal eine Fernsehkritik. Am Donnerstag war Mazen Okasha, der auch in Koulou Tamam, Ägypten? eine durchaus wichtige Rolle spielt, zu Gast bei Maybrit Illner. Der Mitbegründer der ägyptischen Sozialdemokraten und Chef der Fremdenführergewerkschaft am Roten Meer hatte schon drei Tage zuvor bei einem Interview im Morgenmagazin des ZDF daheim in Ägypten für großes Aufsehen gesorgt, als er persönlich von Reisen ans Rote Meer abriet und im übrigen der derzeitigen Regierung jegliche Legitimation absprach.

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Ägypten-Talk im ZDF: (v.l.n.r.) Philipp Mißfelder, Peter Scholl-Latour, Maybritt Illner, Hamed Abdel-Samad, Luban Azzam, Mazan Okasha

Was in Ägypten momentan wohl allenfalls als Minderheitenvotum gilt, war bei Maybrit Illner dagegen die Mehrheitsmeinung. Neben Mazen Okasha saßen die Politologin Lubna Azzam, der CDU Politiker Philipp Mißfelder, der Autor und Journalist Hamed Abdel-Samad und der wohl unvermeidliche Peter Scholl-Latour. Einzig Abdel-Samad vertrat offensiv das, was in Ägypten derzeit wohl die Mehrheit des Volkes glaubt. Bei der Anmoderation schien es so, als sei ausgerechnet Philipp „Hüftgelenk“ Mißfelder dem Journalisten noch an die Seite gestellt worden, damit er seine Position nicht so ganz alleine vertreten muss. Doch der ehemalige Vorsitzende der Jungen Union, der seit seiner Forderung, älteren Menschen keine künstlichen Hüfgelenke mehr einzusetzen, als das Paradebeispiel des kaltherzigen Politikers gilt, hatte so gut wie gar nichts Substanzielles zur Diskussion beizutragen – außer vielleicht, dass er persönlich Mohammed Mursi offenbar für ein Brechmittel hält.

Am erstaunlichsten schien dann doch Peter Scholl-Latour, die Edelmumie deutscher Talkshows. Seine Auftritte werden von mal zu mal bizarrer. Ich selbst habe von Scholl-Latour in meiner Jugend viel gelernt. Er hat mir den Vietnamkrieg erklärt und auch das Interesse für die islamische Welt geweckt. Und jener Peter Scholl-Latour hat die Stirn zu behaupten, dass die Moslembrüder nichts mit der Gamaa al Islamiyya oder mit dem Dschihad zu tun haben. War es nicht eben jener Scholl-Latour, der als einer der ersten im Westen erklärte, wer Hassan al Bana, der Begründer der Moslembrüder, war? Und war es nicht die Märtyrer-Logik des Hassan al Bana, die den Weg zum islamistischen Terror ebnete? Und sind es nicht die Moslembrüder, die sich jetzt genau wieder dieser Märtyrer-Rhetorik bedienen? Für einen, wie Hamed Abdel-Samad muss dieser Abend nur sehr schwer erträglich gewesen sein. Immerhin hat es gegen ihn am 5. Juni einen Mordaufruf gegeben – von Anhängern des inzwischen gestürztem Präsidenten Mursi. Der hatte sich nie von dem Mordaufruf distanziert. Dieser Umstand wurde an jenem Abend, an dem es soviel um Freiheit und Demokratie ging, mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht von der Moderatorin Maybrit Illner.

Als sich Scholl-Latour wieder einmal hinter seinem immensen Schatz an Wissen und Anekdoten verschanzte, explodierte Abdel-Samad förmlich und warf dem einstigen Nahost-Korrespondenten vor, mit seinem Denken im Kalten Krieg stecken geblieben zu sein. Das Publikums beklaschte es laut und Scholl-Latours Miene versteinerte in einem Maße, dass es schien, er halte den Nichtvollzug des nämlichen Aufrufes für einen schweren Fehler.

Auch Mazen Okasha ging auf den Mordaufruf nicht ein. Er musste sich aber von Abdel-Samad fragen lassen, warum er vor dem 30. Juni auf seinere Facebook-Seite Werbung für Tamarod gemacht, nach dem Machtwechsel aber das Militär verteufelt habe. Der bestritt das vehement, doch Abdel-Samad behauptete, er habe die fraglichen Einträge inzwischen gelöscht (Ich kann es leider nicht beurteilen, weil die Postings von Mazen Okasha weitgehend arabisch sind.).

Die Einspieler waren nun auch nicht gerade von großer Ausgewogenheit getragen. Mir erschien das Ganze dann doch ein wenig nach dem politischem Mainstream ausgerichtet, der da lautet: Ja, es war ein Militärputsch, aber ihr müsst alle miteinander reden. Die Antwort auf die eine und entscheidende Frage blieben Scholl-Latour, Azzam und Okasha schuldig: »Mit wem soll man denn reden, wenn sich der andere dem Gespräch konsequent verweigert?«

Was hat uns der Abend gelehrt? Vielleicht, dass Peter Scholl-Latour mittlerweile in Talk-Shows etwa den Peinlichkeitsgrad erreicht hat, wie Udo Lattek im Fußball-Talk »Doppelpass«, den man vor zwei Jahren fast operativ aus der sonntäglichen Runde entfernen musste?

Viele Freunde und Bekannte in Ägypten fragen sich, ob sich der leidenschaftliche Demokrat Mazen Okasha, der sich um die politische Bildung vor allem am Roten Meer wirklich verdient gemacht hat, inzwischen ein Moslembruder geworden ist. Ich glaube das nicht. Zwar teile ich seine Meinung nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie sie sich entwickelt hat. Wenn jemand soviel Zeit und Passion in den Aufbau der Demokratie steckt, wie er, dann sieht er möglicherweise einen Teil seines Lebenswerks zerstört, wenn demokratische Strukturen zerbrechen. Für ihn persönlich ist das alles sicherlich ein großes Drama. Zudem wird er nach seiner Rückkehr mit Repressionen rechnen müssen – was natürlich zutiefst undemokratisch wäre. Da gilt einfach Rosa Luxemburgs Satz, dass die Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden sein muss.

Tja – könnte man nun sagen – muss das nicht auch für Muslembrüder gelten? Auf jeden Fall. Das Problem ist eben nur, dass die MBs jeden, der anders denkt, mit dem Tode bedrohen. Das haben sie sogar getan, als Mursi noch an der Macht war.

Den für mich wichtigsten und bedeutsamsten Satz dieses Abends sprach Hamed Abdel-Samad, auf Mybrit Liiners Frage, was denn nun mit der Demokratie in Ägypten werde. Da sagte er: »Demokratie ist eine Bestimmung, keine Option.« Recht hat er.

Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Wenn Beschwichtigung zum Brandsatz wird

Mir scheint das alles ein wenig absurd zu sein. Ehe die Protestlager der Moslembrüder geräumt wurden, hat die aktuelle Regierung sechs Wochen lang immer wieder Gesprächsangebote an die Moslembrüder gemacht, die sich jedem Gespräch komplett verweigert haben. Trotzdem wurde die provisorische Regierung sowohl von den USA, als auch von der Bundesrepublik beständig kritisiert und zu Verhandlungen gemahnt. Einer der renommiertesten Diplomaten in Deutschland ist Jürgen Chrobog. Er ist selbst mit einer Ägypterin verheiratet, war der Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher und Außenstaatssekretär unter Joschka Fischer. Ach ja, Botschafter in den USA war er auch noch. Der Mann versteht also etwas von seinem Job.  Und er sagt sehr Erstaunliches: »Die ständige Kritik und auch die relative Unterstützung der Moslembrüder heizt eigentlich mehr den Konflikt an, als dass es ihn ausgleicht.«

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Tatsächlich verbitten sich immer mehr Ägypter eine Einmischung von außen. Die Facebookseite Friends of Egypt hat nun sogar eine »Nachricht an die ganze Welt« verbreitet, das Ausland möge sich doch bitte zurückhalten. Die Verbitterung wächst – und das Gefühl, es mit falschen Freunden zu tun zu haben. Mancher meint, dass sich das Land lieber einer Diktatur der Moslembrüder hätte ausliefern sollen, als Mursi von der Macht zu vertreiben. Dabei sind ja viele Ägypter, die mit Mursi gar nichts am Hut hatten, todtraurig darüber, dass das erste demokratische Experiment mit einem gewählten Präsidenten so kläglich scheiterte.

Angesichts von mehr als sechshundert Toten fällt es natürlich sehr schwer, sich zurückzuhalten. Aber viele Ägypter sehen das ganz anders. Ein ägyptischer Soziologe etwa meinte: »Bei uns sterben jedes Jahr 30.000 Menschen im Straßenverkehr. Darüber regt sich niemand auf.« Tatsächlich scheint das Mitleid mit den Moslembrüdern, die nun versuchen, ein ganzes Land in Geiselhaft zu nehmen, in Ägypten selbst nicht mehr besonders ausgeprägt zu sein.

Dass El Baradai die Räumung der Camps zum Anlass nahm, seinen Rücktritt einzureichen, wirft ein weiteres Schlaglicht auf die völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse. Während Außenminister Guido Westerwelle den Schritt des ihm freundschaftlich verbundenen Nobelpreisträgers nach eigenen Worten verstehen und nachvollziehen kann, betrachten viele Ägypter El Baradais Rückzug als ziemlich feige Fahnenflucht. Mehr noch – sein Rückzug und die verständnisvollen Worte des deutschen Außenministers bestätigen nur den Eindruck, den viele Ägypter von El Baradai schon seit zweieinhalb Jahren haben: Er ist ein wendischer, rückgratloser Politiker, der an den Fäden des Westens hängt.

War die blutige Räumung der Protestcamps wirklich so nötig? Tatsächlich wurde ja kurz der alberne Versuch unternommen, die Räumung zu einem Kairoer Kommunalproblem herunterzuspielen. Die Camps müssten deshalb sofort geräumt werden, weil sie wichtige Verkehrsverbindungen blockierten.

Tatsächlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Räumen oder Aushungern. Doch was wäre passiert, wenn man sich fürs Aushungern entschieden hätte? Wenn die Moslembrüder in einer Woche kleine, vom Tod gezeichnete Kinder präsentiert hätten oder elend verdurstete Frauen? Die Schuld wäre ja wieder nicht den Moslembrüdern gegeben worden, sondern der provisorischen Regierung – warum auch immer.

So traurig es klingt: Aber die derzeit Herrschenden am Nil sind von dem Moslembrüdern in eine Wahl hineingetrieben worden, die irgendwo zwischen Pest und Cholera liegt. Natürlich sehen die, die mit Bulldozern auffahren, vor der Welt immer schlechter aus, als die, die nur mit Steinen werfen. Es wäre ja leicht zu sagen: Das haben sie jetzt von ihrem Putsch. Andersherum: Erst durch den Umsturz sieht ja die Welt, zu was für rigorosen Handlungen die Moslembrüder fähig sind. Es werden wieder friedliche Tage in Ägypten einkehren und das hoffentlich bald – aber ich fürchte, dass bis dahin noch einiges Blut vergossen wird.

Meiner ist größer

Vor Jahren stand ich einmal fasziniert vor einem Fernseher in Ägypten und verfolgte eine arabische Soap. Ich verstand fast kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Große Gesten, laute Worte und rollende Augen taten das ihre. Es hatte schon etwas von einem lärmenden Stummfilm. In genau so etwas fühle ich mich derzeit hineinversetzt, wenn ich sehe, was in Kairo abläuft. Aber Ägypten besteht ja nicht nur aus Kairo und Alexandria.

Als ich nun in der ersten Juli-Hälfte eine Woche in Ägypten war, habe ich da unten um Marsa Alam herum von der aktuellen Situation sehr wenig mitbekommen. Aber das wenige hat mich schon nachdenklich gemacht. Da war zum Beispiel das Gespräch mit einem ägyptischen Tauchlehrer, der alles andere als ein Anhänger der Moslembrüder ist. Und er zeigte sich einfach nur traurig darüber, dass das Experiment mit dem ersten frei gewählten Präsidenten des Landes so endet. Mit dieser Meinung steht er nicht allein. Für viele überzeugte Demokraten ist der Sturz Mursis eine Bankrotterklärung der ägyptischen Demokratie. Ich selbst teile diese Einstellung nicht. Natürlich nicht, denn ich glaube, dass sich das ägyptische Volk im richtigen Moment gewehrt hat, so wie sich vielleicht das deutsche Volk spätestens im April 1933 gegen Hitler hätte wehren müssen, nachdem offenbar wurde, was das Ermächtigungsgesetz bedeutet. Auch auf die Gefahr hin, dass man nun mault und behauptet: „Jetzt packt der auch noch die Nazikeule aus“, bleibe ich dabei: Die Rechte, die sich Mursi aneignen wollte, beinhalteten genau das, was die Nazis mit den Ermächtigungsgesetzen durchgepeitscht hatten – und dass die Moslembrüder inzwischen für eine wahre Pogromstimmung gesorgt hatten, will ja wohl auch niemand ernsthaft bestreiten. Trotzdem verstehe ich, dass jemand, der zum ersten Mal die Demokratie wirklich geschmeckt und gefühlt hat, betrübt darüber sein kann, dass der gewählte Präsident von Militärs entmachtet wird. Ich denke auch, dass man diese Bedrückung auch ernst nehmen sollte.

ALLGEGENWÄRTIG: Überall flattern derzeit Ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Allgegenwärtig: Überall flattern derzeit ägyptische Fahnen, wie hier in Marsa Shagra.

Eine andere Erfahrung hat mich dagegen sehr stutzig gemacht. Am 14. Juli fuhr ich von Marsa Shagra zurück nach Hurgahda. An keiner einzigen Tankstelle habe ich eine Warteschlange gesehen. Ich glaube nun nicht, dass dieses Phänomen mit dem Ramadan zusammenhängt. Vielmehr erinnerte es mich an die Erzählungen meiner Eltern von der Währungsreform 1948. Seit Kriegsende waren die Schaufenster leer gewesen. Doch mit der Einführung der D-Mark füllten sie sich über Nacht. Diesel und Benzin waren also wohl die ganze Zeit da. Nur, wo war das Zeug versteckt?

Und? Hat es Abdel Fatah al Sissi bislang gut gemacht? Dass er bis auf die Moslembürder alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in ein Boot gebracht hat, ist schon nahezu sensationell. Dass Saudi Arabien fünf Milliarden Euro rübergeschoben hat und die Salafisten unmittelbar danach wieder ganz friedlich waren, wird wohl auch irgendwie zusammenhängen. Die Saudis haben ihr Projekt „Gottesstaat Ägypten“ (so sie es je hatten) erstmal hintangestellt. Ein Bürgerkrieg in der Region reicht ihnen – zu recht. Vielleicht sind sie ja von Sissi überzeugt worden.

Aber das, was er in dieser Woche veranstaltet hat, besitzt bestenfalls Comic-Niveau. Der Aufruf an die Ägypter, jetzt auf die Straße zu gehen, um dadurch ein hartes Durchgreifen gegen die Moslembrüder zu legitimieren, ist ja schon ziemlich krass. Vor allem zeigt er damit völlig unnötig Schwäche. Im Prinzip ist es doch ganz einfach: Entweder die Moslembrüder haben gegen die bestehenden Gesetze verstoßen und tun das weiterhin, dann soll man sie einfach festnehmen und gegebenenfalls verurteilen. Wenn sie aber nicht gegen die bestehenden Gesetze verstoßen, dann ist ein gewaltsames Vorgehen ein Unrecht – egal wieviele Demonstranten al Sissi mobilisieren kann.

Ich persönlich glaube ja, dass Sissi mit dem Demonstrationsaufruf in erster Linie mal den Moslembrüdern zeigen wollte, um wieviel mehr Menschen er mobilisieren kann, als die Brüder. Es hat so etwas von spielenden Jungs. „Aber meiner ist größer, ätsch“. Leider ist der Einsatz für solch pupertäre Spielchen ziemlich blutig.

Vielleicht ist es aber auch eine Panikreaktion. Von vielen unbemerkt ist die Situation auf dem Sinai inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass die Moslembrüder schon seit geraumer Zeit dort richtig mitmischen – und dass die längst totgesagte Gamma al Islamiyya dort wieder fröhliche gewalttätige Urstände feiert – zusammen mit Dschihad und Hamas – und Al Kaida. Ihr Hauptangriffsziel ist seit Wochen und Monaten das ägyptische Militär.

Wenn sich das bestätigt – und wenn sich vor allem bestätigt, dass Mursi davon gewusst hat – dann wird es für ihn sehr eng, vor allem um seinen Hals rum. Es geht dann um etliche tote ägyptische Soldaten. 14 von ihnen sind ziemlich genau vor einem Jahr bei einem Anschlag auf eine Grenzstation ums Leben gekommen. Mursi nutzte sie Gunst der Stunde, um sich des Chefs des Obersten Militärrats SCAF, Feldmarschall Mohammed Tantawi, zu entledigen. Inzwischen hat es immer wieder Anschläge auf Militäreinrichtungen gegeben. Sollte jetzt noch herauskommen, dass Mursi davon gewusst hat, dann wäre der Hochverratsprozess mit feststehendem Ausgang unumgänglich. Und das ist die eigentliche Pointe des Tages: Der Staatsanwalt hat heute U-Haft für Mursi für die nächsten zwei Wochen angeordnet. Es soll untersucht werden, inwieweit die Hamas bei Mursis Befreiung aus dem Gefängnis beteiligt war. Der Weg von Gaza in den Sinai ist ja nun wirklich nicht weit – auch gedanklich. Mich würde es nicht wundern, wenn bei dieser Untersuchung noch ganz andere Dinge herauskommen würden.

Was hilft Ägypten?

Ein Argument, das nicht nur Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi immer wieder vorbringen lautet: Er hatte ja nicht genug Zeit. Auch die Opposition hätte die daniederliegende Wirtschaft innerhalb eines Jahres nicht wieder zum Laufen bringen können. Wer die Entwicklung des letzten halben Jahres miterlebt hat, wer gesehen hat, wie die Schlangen vor den Tankstellen täglich länger wurden, wie die Preise explodierten, aber auch wie das ägyptische Pfund zusehends verfiel, der konnte es ahnen. Um einen Volksaufstand Mitte des Jahres vorauszusagen bedurfte jetzt nicht unbedingt besonders großer politischer Weitsicht. Ich persönlich hab mich vertan. Ich fürchtete, dass es schon Ende April, Anfang Mai so weit sein könne. Es spricht eigentlich für die Duldsamkeit der Ägypter, dass sie sich zwei Monate länger Zeit ließen. Die permanenten Drohungen und Mordaufrufe der Regierungsanhänger wirkten allerdings wie ein Katalysator – und rechtfertigen natürlich auch, dass Mursi und die Seinen davongejagt wurden.

DUNKLE WOLKEN hängen derzeit noch über der politischen Zukunft Ägyptens.              Foto: psk

DUNKLE WOLKEN hängen derzeit noch über der politischen Zukunft Ägyptens. Foto: psk

Ist jetzt die Frage aller Fragen: Wie geht es weiter und wie will Ägypten aus der desaströsen wirtschaftlichen Situation herauskommen. Auf den ersten Blick scheint die Aufgabe zu groß und völlig unlösbar. Wenn man überlegt, dass die Opposition unter anderem daran scheiterte, dass sie es nicht schaffte, sich auf irgendetwas zu einigen, dann sieht es ziemlich trostlos aus. Schon der Blick auf die, die da an einem Tisch sitzen und nun zusammenarbeiten müssen verheißt wenig Gutes: Vertreter der Tamarod, eigentlich einer Jugendorganisation, und Salafisten, die Koptischen Führer und Islamische Geistliche. Das werden sicher sehr lustige Gesprächsrunden. Natürlich ist mit Blick auf die Vergangenheit scheinbar ein Ding der Unmöglichkeit, dass sich diese heterogene Gruppe auf schnelle und bitter notwendige Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen einigt. Was auf Ägypten zukommen könnte, zeigt sich ja schon  jetzt an dem Hick-Hack um El Baradei als möglichen Premierminister.

Doch vielleicht sind die Aussichten ja gar nicht so schlecht. Das liegt letztlich in den Händen des Militärs. Auch wenn sich die Armee wieder in ihre Kasernen zurückziehen wird, hat sie vermutlich  den Schlüssel zur Lösung der Probleme in der Hand. Sie können die Regierung – wer immer sie stellen wird – förmlich kaufen. Und das meine ich ausnahmsweise nicht im schlechten oder korrupten Sinne. So kann die Armee zum Beispiel die Löhne ihrer Bediensteten erhöhen. Nehmen wir einmal an, die künftige Regierung braucht die Zustimmung der Salafisten für ein bestimmtes Projekt, doch die stellen sich quer. Wenn das Militär jetzt zum Beispiel seine Arbeiter in den Aluminuim-Werken in Oberägypten besser bezahlt – falls die Salafisten dem Projekt zustimmen, dann werden sie genau dort von ihrer Basis entsprechenden Druck bekommen.

Ob diese Beispiel jetzt 1:1 auf die Realität zu übertragen ist, vermag ich nicht zu sagen. Aber das Beispiel soll zeigen, dass das Militär durch seine wirtschaftliche Potenz ja durchaus Gestaltungsmöglichkeiten besitzt, die es zum Wohle des Landes einsetzen kann – und langfristig wohl auch muss. Wenn die Armee das täte, wäre es ja letztlich egal, ob sie weiterhin keine Steuern bezahlt oder irgendwann doch.

Sollte es den Militärs gelingen, hinter den Kulissen ausgleichend zu wirken, dann wird auch schnell wieder ein wirtschaftliche Gesundung eintreten. Schon sollen die Schlangen an den Tankstellen nicht mehr ganz so lange sein, was ich von hier aus nicht seriös beurteilen kann. Was ich aber beurteilen kann, dass ich morgen  am Bankschalter auf dem Flughafen von Hurghada deutlich weniger Ägyptische Pfund für meine Euros bekommen werde, als ich letzte Woche bekommen hätte – behauptet zumindest ein Währungsrechner. Das mag vielleicht für mich jetzt nicht ganz so angenehm sein. Für Ägypten ist es dagegen eine sehr ermutigende Nachricht.

Armee in der Falle

Viele durchaus sehr demokratische gesinnte Menschen rätseln darüber, wie ein amerikanischer Präsident über die Vorgänge in Ägypten besorgt sein kann, oder warum ein deutscher Außenminister den Machtwechsel gar als Rückschlag für die Demokratie wertet. Entweder haben beide von nichts eine Ahnung, oder sie sind schlecht beraten – oder sie fürchten sich vor etwas. Tatsächlich hat sich in Ägypten etwas getan, was vor allem den amerikanischen Präsidenten in große Sorgen versetzen muss. Die ägyptische Armee, die im Moment als der große Machtfaktor dasteht, die einen gewählten Präsidenten aus dem Amt gejagt hat und zudem einen Staat im Staat bildet, ist ja gleichzeitig auch einer der wichtigsten Verbündeten der USA in dieser Region. Immerhin sponsorn die Amerikaner das ägyptische Militär mit 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Und diese Armee hat vorgestern bei näherem Hinschauen eigentlich eine ganz empfindliche Niederlage einstecken müssen. Im Moment wird das alles durch Jubelszenen auf dem Tahrir überdeckt. Aber Barak Obama muss ich in der Tat sorgen um die ägyptische Armee machen. Diese Revolution 2.0 könnte sie nämlich nachhaltiger ändern, als das viele im Moment glauben mögen.

Schauen wir uns das Militär mal etwas genauer an. Die Führungsspitze ist weder demokratisch noch besonders freiheitlich orientiert. In den Militärakademien kursieren unter den künftigen Offizieren das Landes solch literarische Blüten wie zum Beipiel „Mein Kampf“. Durch übermäßig große Lust an der Kriegsführung ist Ägyptens Armee seit 40 Jahren – Gott sei Dank – auch nicht mehr aufgefallen. Dafür haben die Militärs ein Wirtschafts- und Verwaltungsimperium aufgebaut, das seines gleichen sucht. Panzer und Raketen sind weitgehend Nebensache und dienen eher als Spielzeug. Längst die die Armee ein sich selbst erhaltendes System geworden – steuerfrei.  Man kann nicht einmal sagen, dass die Armee das Land systematisch ausblutet. Sie schafft ja auch Arbeitsplätze – sehr viele sogar. Staat und Armee sind eher in einer symbiotischen Struktur miteinander verbunden. Und genau das macht sie nun angreifbar.

Hat der Jungenfrauentester Abdel Fatah al Sissi tatsächlich in einer Anwandlung von Demokratiebesoffenheit Tamarod die Hand gereicht? Hat er sich nach einem Damaskuserlebnis vom Saulus zum Paulus gewandelt, zum großen Freiheitskämpfer? Möglich, aber kaum anzunehmen. Nein, der oberste Militär hat sich erpressen lassen – vom Volk. So einfach sieht es aus. Seit etwa einem halben Jahr wurden die Stimmen immer lauter, das Militär solle eingreifen. Es hatte seit Monaten immer wieder mal sehr wachsweiche Ankündigungen der Armee gegeben, vielleicht mal irgend wann etwas zu tun, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab gehe. Das wurde zurecht als der kolossale Unwille gewertet, in die Politik aktiv einzugreifen. Doch auf einmal ging alles sehr schnell. Als Tamarod plötzlich Millionen auf die Straße brachte und am vergangenen Sonntag das Ultimatum vom Tahrir kam, reagierten die Militärs. Kaum hatten die Demonstranten mit bedingungslosem zivilen Ungehorsam gedroht, kam auch schon ein Ultimatum der Armee. Warum wohl? Sie hatten das Wort vom „bedingungslosen Ungehorsam“ völlig richtig mit „Generalstreik“ übersetzt. Doch wem hätte denn ein Generalstreik am meisten geschadet? Doch denjenigen, die am meisten Menschen beschäftigen. Um es platt auszudrücken: Die Militärs fürchteten die Pleite ihrer eh schon ausgesprochen angeschlagenen Unternehmen.

Doch warum war das Eingreifen des Militärs nun langfristig eine Niederlage? Erstmals in der jüngeren Geschichte hat sich das Militär vom Volk zu etwas zwingen lassen. Es hat eine offene Flanke gezeigt und offenbart, wo es verwundbar ist: Nämlich genau dort, wo es verdient. Die Androhung von Streiks werden die Militärs nicht weniger beunruhigen, als die Ankündigung Obamas die jährliche Militärhilfe zu überdenken. Wenn das dem ägyptischen Volk klar wird, dann kann das der erste Schritt sein, um die alt her gebrachten Strukturen aufzubrechen.

Niemand kann im ernst erwarten, dass sich das Militär von heute auf morgen von seine Reiseunternehmen und Nudelfabriken trennt. Aber das Volk kann sehr wohl vom Militär erwarten, dass es in einer großen wirtschaftlichen Krise endlich einmal damit anfängt, Steuern zu bezahlen. Es kann auch darauf pochen, dass es irgendwann seine Finanzen offenlegt. Wie es dann weiter geht? Man wird sehen.

Aber auch das Militär hat ja seine Möglichkeiten. Es steht ja unter dem Druck, der Welt, vor allem der westlichen, beweisen zu müssen, dass das, was da in Ägypten passierte, auch rechtens ist und das geht nur über einen Erfolg der Regierung – einer zivilen Regierung der nationalen Einheit. Die Erfahrungen mit der Opposition in der Vergangenheit sind leider wenig ermutigend. Da hatte sich zum Beispiel der ägyptische Block mit 15 Parteien, Verbänden und Gewerkschaften selbst so zerlegt, dass nur noch drei Parteien übrig blieben. Nun müssen sich die einstigen Oppsitionskräfte zusammenraufen. Dass sie es schaffen wäre eher unwahrscheinlich, stünde nicht das Militär im Hintergrund, das sie möglicherweise dazu zwingt.

Wie immer man das Kind vom 3. Juli nennen will, zweite Revolution, Putsch oder Staatsstreich – eines ist jedenfalls klar: Die Armee ist dem Volk in die Falle gegangen – nicht umgekehrt.

Dann jagen wir sie eben zum Teufel

Es ist ja manchmal so nach einem großen Fest, daß man mit einem gehörigen Kater erwacht. Wenn es am Tag nach den Erfolg der „Rebellion“, wie Tamarod übersetzt heißt, zu einer Art Kater kam, dann sorgten dafür ausgerechnet US-Präsident Barak Obama und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Beide äußerte sie ihre Sorgen und mahnten das Militär, die Macht so schnell wie möglich wieder in zivile Hände zu legen. Zumindest bei Obama erscheint mir die Mahnung als etwas heuchlerisch, denn es ist kaum anzunehmen, dass Abdel Fatah el Sissi auch nur einen Schritt gemacht hat, ohne sich zuvor mit dem Pentagon abzusprechen.

Die gesamte Legitimationdebatte, die schon gestern losgetreten wurde, als Mursi noch im Amt war, erscheint mir persönlich völlig verfehlt. Ja, es stimmt, dass da ein demokratisch gewählter Präsident mit Hilfe des Militärs aus dem Amt gekippt wurde. Ja, und? Vielleicht hilft ja mal ein Blick zurück, ein Blick auf das Ägypten vor ein oder anderthalb oder zwei Jahren. Natürlich hatte niemand die Legitimitätsfrage gestellt, als das Militär Hosni Mubarak stürzte und als Mursi Knall auf Fall Mohamed Tantawi entließ, war das auch nichts weniger als ein Staatsstreich. Aber beide waren nicht demokratisch legitimiert. Allerdings war es doch Mohamed Mursi, der bei seiner Amtsübernahme die Ägypter sogar aufforderte wieder auf die Straße zu gehen, wenn sie mit seiner Amtsführung unzufrieden sind.  Genau das haben sie doch getan. Dafür haben seine Brüder den Demonstranten den Heiligen Krieg erklärt! Was im übrigen, nach der von den Muslimbrüdern durchgepeitschen Verfassung, den Tatbestand des Hochverrats darstellt. Mursi hat sie nicht einmal zur Rechenschaft gezogen.

Mit ihrer Revolution vom Frühjahr 2011 sind die Ägypter auf den Geschmack der Demokratie gekommen. Allerdings ist das keine Demokratie, die wie soutierte Wachtelbrüstchen mit lauwarmer Brunnenkresse daher kommt, sondern wie ein derber über dem Spieß gebratener Hammelbraten, aus dem man sich mit der Hand ein Stück rausreißt. Die ägyptische Demokratie ist (noch) archaisch und – ja vielleicht auch anarchisch (nicht anarchistisch!!) – aber es ist eben doch eine Demokratie.

Als ich vor anderthalb Jahren für „Koulou Tamam“ recherchiert habe, hatte ich ein langes Interview mit Housam, einem Koch aus Hurghada, der aus Souhag im Niltal stammt. Daran mußte ich gestern wieder denken. Soviele Experten haben in den letzten zwei Jahren so schlaue Dinge gesagt – und sich so gründlich geirrt. Ich selbst nehme mich da weiß Gott nicht aus. Aber heute kommt mir das, was Housam damals im Januar 2012 zu mir sagte doch sehr prophetisch vor:

Chefkoch Housam Foto: psk

Chefkoch Housam
Foto: psk

„Wir haben keine Angst vor der Zukunft. Warum auch? Egal, wer jetzt an die Regierung kommt, ob Islamisten, Liberale oder sonst wer, sie müssen die Situation für die Menschen verbessern. Das heißt, sie müssen genug zu essen und ein vernünftiges Dach über dem Kopf haben. Wenn sie das nicht schaffen, stehen eben wieder Millionen auf dem Tahrir und verjagen sie. Dann kommen eben die nächsten dran.“ (Koulou Tamam Ägypten, Carpathia-Verlag Berlin, 2012)

Nun ist Housam kein verkopfter Politiker, kein spitzfindiger Analytiker, sondern ein einfacher, sehr frommer aber auch durchaus reflektierter Mann aus dem einfachen Volk. Das, was er vor anderthalb Jahren zu mir sagte, reicht doch völlig aus als Legitimation für das, was gestern passiert ist. Den Ägyptern geht es heute schlechter als zu Zeiten Mubaraks. Da hätten sie ihn auch gleich behalten können. Nein – die überwiegende Zahl des Volkes sah sich an den Rand der Existenz gedrückt und hat meines Erachtens und völlig zu Recht in Notwehr gehandelt – und das Militär hat – ebenfalls völlig zu Recht – das Volk darin unterstützt. Dass das Militär nur an zwei Dingen interessiert ist, an der Wahrung seiner Privilegien und denn 1,4 Milliarden jährlich aus den USA… geschenkt.

Man muss dem Militär aber eines zu Gute halten. es hat aus dem zweieinhalbjährigen Desaster gelernt. Wenn die Pressekonferenz gestern ein Zeichen für die Zukunft war, dann geht Ägypten goldenen Zeiten entgegen. Nach Sissi sprach der Sheik der Al Ahsar Universiätet und nahm damit den Moslembrüdern die Legitimität, im Namen des Islam zu sprechen, sprach El Baradei für die Säkularen, und stand als Symbol, dass die zerstrittene Opposition nun mit einer Stimme sprechen will, sprach Papst Tawadross II., das Oberhaupt der koptischen Christen und brachte damit in Erinnerung, dass die christliche Minderheit ebenfalls eine wichtige Rolle in Ägypten spielen sollte, sprach ein Vertreter der Jugend, die ja nicht ganz zu unrecht glaubte, dass ihr die erste Revolution gestohlen worden sei – und dann die größte Überraschung, sprach ein Vertreter der Salafisten. Und das muss für die Moslembrüder der niederschmetterndste Anblick an jenem Abend gewesen sein. Selbst die vermeintlich noch viel sittenstrengeren Glaubensbrüder lassen sich in ein Bündnis der nationalen Einheit einbinden.

Dieses Bündnis wurde ja nicht gestern Abend vor den Fernsehkameras geschmiedet, sondern schon vermutlich zwei Tage zuvor. Die Muslimbrüder waren dazu eingeladen. Sie waren die einzige gesellschaftliche Gruppe, die dieser Einladung nicht gefolgt sind. Man kann es also auch so sehen, dass sich der Präsident von seinem Volk abgewendet hat. Dann muss er sich nicht wundern, wenn er davon gejagt wird.

Ich habe an dieser Stelle schon das ein oder andere Mal die Opposition kritisiert, weil sie lieber weggelaufen ist und Demonstrationen organisiert hat, statt auf dem parlamentarischem Weg zu kämpfen. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Aber auch das kann die gestrigen Ereignisse nicht diskreditieren. Das ganze war nach meiner Ansicht aus demokratischer Hinsicht völlig okay.

Wenn das der amerikanische Präsident ausgerechnet am 150. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg anders sieht, ist das schon sehr traurig. Sein Idol Abraham Lincoln hat sogar einen vierjährigen Bürgerkrieg – der dank der Umsicht der Militärs den Ägypten jetzt hoffentlich erspart bleibt – geführt, um die Demokratie zu retten. Vier Monate nach der Schlacht weihte Lincoln den Soldatenfriedhof in Gettysburg ein. Dabei sprach der nur zweieinhalb Minuten lang und seine Rede umfaßte gerade mal 200 Worte. Die letzten Worte lauteten: „Auf dass diese Nation, unter Gott, eine Wiedergeburt der Freiheit erleben – und auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge.“ Mabruk ya Masr.

 

Kommt jetzt die Ruhe nach dem Sturm?

Nach jetzigem Stand hat es in der Nacht sieben Tote gegeben. Schlimm genug, aber bedenkt man, wieviele Menschen im ganzen Land auf der Straße waren, da ging es doch eigentlich glimpflich ab. Die Berichterstattung in Deutschland war mal wieder zwischen kurios und Zum-Haare-Raufen. Der neue Korrespondent des ZDF, Thomas Ader, stammelte mehr als das er sprach – der arme Kerl stand offenbar Todesängste aus. Als ein oder zwei Armee-Hubschrauber tief über den Tahrir flogen, stellte er fest, dass die Stimmung gekippt sei, weil die Menge gejohlt habe – was immer er damit sagen wollte. Es kam jedenfalls so an, als hätten die Demonstranten Angst vor dem Militär. Hm. Soviel zur Sachkunde deutscher Korrespondenten.

Vor zwei Jahren haben wir in Deutschland gelernt, dass auf den Tahrir 300.000 bis 400.000 Menschen passen. Es hätte eigentlich ein Leichtes sein müssen, die Menschenmassen auf und um den Tahrir zu schätzen. Wenn die Nilbrücke und die Corniche zum Platzen voll sind und ebenso die Straße die zum Tahrir führen, ist es einfach mal Volkverdummung, wenn  es in einem öffentlichen-rechtlichen Sender in den Hauptnachrichten heißt: „Einige Zehntausend Menschen haben sich auf dem zentralen Tahrirplatz versammelt, um gegen den ägyptischen Präsidenten Mursi zu demonstrieren.“ Mein Gott, was für ein schlechter Journalismus! Immerhin, im Morgenmagazin der ARD war davon die Rede, dass es vielleicht die größte Demonstration war, die das Land je gesehen hat. Als größte „Demonstration“ gilt noch immer die Beerdigung von Gamal Abdel Nasser. Damals sollen fünf Millionen Menschen den Trauerzug gebildet haben. Falls jemand sich für meine Schätzung interessiert: Drei bis vier Millionen werden es auf und um den Tahrir gewesen sein. Ich lass mich aber gerne belehren.

Aber das Köpfe Zählen ist ja vielleicht nicht das spannenste. Erschreckender fand ich viel mehr, dass die Anhänger Mursis – zumindest in den Beiträgen, die ich gesehen habe – alle mit Helm, Schild und mindestens Schlagstöcken bewaffnet waren. Das sagt eigentlich alles. Allerdings, der Einwand gilt ja auch, wir wissen nicht, ob da gerade eine Gruppe von zehn Salafis ein schönes Motiv für einen Kameramann darstellten und genau diese Sequenz X-Mal um den Globus wanderte. Trotzdem bleibt ja wohl auch eines klar: Ich habe bislang noch von keinem Oppositionellen gehört, dass man die Moslembrüder umbringen müsste. Von der anderen Seite hörte sich das schon viel bedrohlicher an.

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee. Foto: Ashraf Sahleh

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee.
Foto: Ashraf Sahleh

Ein weiterer Punkt, der mich sehr überrascht und auch gefreut hat: Erstmals gab es in Hurghada eine sehr große und offensichtlich auch sehr friedliche Demonstration mit Volksfestcharakter. Manch einer wird das mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen haben. So friedlich das auch gewesen sein mag, die Reiseveranstalter haben diese Bilder sicher nicht gerne gesehen. Trotzdem: es war richtig. Sind wir doch mal ehrlich: der Tourismus macht Ägypten derzeit zu einem zweigeteilten Land. Das Niltal wird gemieden. Fast alle Kreuzfahrschiffe liegen still. An der Küste ist alles friedlich und da hoffen sie nur, dass in Kairo nicht all zu laut demonstriert wird, damit nicht auch noch die letzten Gäste am Roten Meer verscheucht werden. Dabei hat der Tourismus von der Revolte gegen Mursi am meisten zu gewinnen. Setzen sich der und die Brüderschar durch, dann wird die Islamisierung des Fremdenverkehrs nur noch eine Frage der Zeit sein.

Doch nun? Was tun? Spannend wird sein, was nach dem Ultimatum, das am Dienstag um 17 Uhr abläuft, passieren wird – oder eben auch nicht. Natürlich wird Mursi nicht weinend zurücktreten. Aber wenn er es nicht tut, dann ist kompletter ziviler Ungehorsam angesagt. Das klingt nach Generalstreik. Der würde das Land dann wirtschaftlich komplett zusammenbrechen lassen. Das müßte dann aber konsequenter Weise sofort das Militär auf den Plan rufen, weil ja fast die Hälfte aller Fabriken ihm gehören. Vielleicht ist das ja das Kalkül. Möglicherweise kommt nach dem Sturm jetzt die ganz große Ruhe, weil das Land plötzlich still steht. Und das ist viel bedrohlicher für die Regierung als zehn Großdemos in Kairo. Stillstand könnte jetzt Kollaps bedeuten. Aber vielleicht braucht es das ja, vielleicht muss es erst kollabieren, damit man von vorne anfangen kann.

Was das Land jetzt bräuchte, wäre ein ehrlich Makler. Einen, der die tief gespaltenen Gruppen wenigstens dazu bringt, miteinander zu reden. Doch woher soll der kommen? Die Ägypter sind viel zu stolz, um einen Ausländer zu akzeptieren. Ich dachte erst an jemand wie Boutros Boutros-Ghali. Der ist allerdings 91 und ich weiß nicht ob er gebrechlich und dement oder noch fit und geistig rege ist. Na ja, Georgio Napolitano  ist zwei Jahre jünger und hat Italien gerade mal wieder vor dem Untergang gerettet. Doch an einer Personalie wie Boutros-Ghali zeigt sich das ganze Dilemma. Der wird von den Brüder aus einem Grund nie akzeptiert werden: Er ist Kopte. Die beiden Lager sind nicht einmal in der Lage einen Vermittler zu finden. Miteinander reden tun sie nicht, weil sie einander zu tiefst misstrauen.

Doch über all die Gräben hinweg müßten sie doch auch über Gemeinsamkeiten zueinander finden. Die einzige Industrie, die in Ägypten derzeit Hochkonjunktur haben dürfte, ist die Wimpel- und Fahnenwirtschaft. Alle schwenken sie doch gerade die ägyptische Flagge, egal zu welcher Gruppierung sie gehören. Das heißt sie gehen aus Liebe zu ihrem Land auf die Straße. Das wäre doch schon einmal ein Anfang.

Aufgeben gilt nicht

Vor mehr als einem halben Jahr habe ich in diesem Blog den letzten Beitrag veröffentlicht. Nach einem Jahr dachte ich, dass es jetzt mal gut sein müsste. Allerdings war mir aber, angesichts der ägyptischen Politik – darf man dieses Chaos überhaupt so benennen? – auch die Lust vergangen, noch weiter zu schreiben. Außerdem kam ich mir ziemlich bescheuert vor. Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang daran geglaubt, dass die Moslembrüder die Kurve bekommen würden. Am Ende behielten die Recht, die von Beginn an vor der Bruderschaft gewarnt hatten.  Doch selbst die sind nun von dem Ausmaß der Konfusion ziemlich überrascht.

Gute Nacht, Ägypten?

Gute Nacht, Ägypten?

Diejenigen, die den Brüdern zutrauten, das Land zu ordnen oder wenigstens richtig zu verwalten, verwiesen ja nicht ohne Grund darauf, dass die Bruderschaft, die in diesem Jahr immerhin 85 Jahre(!) alt wird, stehts straff geführt und sehr gut durchorganisiert war. Und nur dieser Organisationsgrad habe es möglich gemacht, dass die Moslembrüder auch in der Zeit, da sie verboten waren, effektiv weiter arbeiten konnten und sogar wuchsen.

Von höherer Organisation- und Verwaltungskunst ist heute bei den Brüderen nichts mehr zu erkennen. Im Gegenteil. Die Versorgungslage wird von Tag zu Tag schlechter. Das Stromnetz steht vor dem Kollaps, die Produktion wird immer geringer, die Preise explodieren, die Einnahmen aus dem Tourismus brechen weg, das ägyptische Pfund zerfällt (aktueller Kurs heute: 1:9,36). So ziemlich jedes Gebiet in Wirtschaft und Gesellschaft ist heute deutlich schlechter dran, als zu den Zeiten Mubaraks. Auch Sitten und Moral verfallen – was nun ausgerechnet bei den islamischen Sittenwächtern seltsam anmutet. Im Februar wurde ich auf dem Flughafen in Hurghada Zeuge einer unfassbar bizarren Szene: Da kam es zu einer Prügelei zwischen Angehörigen des Sicherheitspersonals, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, welches von drei Durchleutungsgeräten für die Passagiere benutzt werden sollte (Für alle, die sich auskennen: Das ganze spielte sich zwischen Passkontrolle und Duty-Free-Bereich ab).

Die jüngsten Schlagzeilen aus Ägypten sind auch alles andere als ermutigend. Mursi hat acht neue Gouverneure ernannt. Besonders „feines Gespür“ bewies er bei der Ernennung des Gouverneurs von Luxor. Adel Asaad al-Chajat gehört zur Gamaa al Islamiyya und damit zu der Organisation, die 1997 für das fürchterliche Blutbad am Hatshepsuttempel vor den Toren von Luxor verantwortlich gemacht wird.

Aussicht auf Besserung? Viele Ägypter schielen teils hoffnungsvoll, teils angstvoll auf den 30. Juni. Da sind in Kairo wieder große Proteste angekündigt. Mittlerweile schwirrt schon das Wort von der „Zweiten Revolution“ durchs Internet. Als hätten sie von der ersten noch nicht genug. Und dann ist da noch die Sache mit dem Militärputsch. Selbst überzeugte Demokraten sehnen sich den inzwischen herbei, weil sie glauben, dass dann wieder Ruhe und vor allem eine gewisse Ordnung im Land einkehren. Aber die Militärs zieren sich. Sie müssten ja dann Verantwortung übernehmen, das haben sie ja schon nicht getan, als sie in Form des Obersten Militärrats (SCAF) an der Macht waren. Mursi und seine Brüder haben im letzten Jahr schon weiß Gott viel Unheil angerichtet. Aber was der SCAF hinterlassen hatte, war auch alles andere als ein geordnetes Haus. Und dann noch eines: Als Mursi vor einem Jahr den greisen Feldmarschall Tantawi kurzerhand vor die Tür setzte, ordnete er auch den Militärrat neu. Nun muss man sicher nicht dreimal raten, wieviele Kritiker Mursis oder der Moslembrüder in dem höchsten Militärgremium sitzen.

Eine andere ägyptische Hoffnung stirbt derzeit jenseits des Mittelmeeres auf dem Taksimplatz in Istanbul. Rund zehn Jahre lang hat in der Türkei eine islamische Partei der Welt gezeigt, dass sie auch Demokratie kann – und das noch mit bis zu neun Prozent Wirtschaftswachstum. Das Thema dürfte nun auch begraben werden. Die Türkei als Vorbild für Ägypten? Fatalerweise scheint es ja umgekehrt zu sein. Erdoğans Rhetorik erinnert fatal an Mursis Geschrei mit dem Tenor „Wir haben die Mehrheit, wir dürfen alles“.

Wenn ich auf die Blogbeiträge vom vergangenen Jahr schaue, dann waren sie am Anfang eigentlich sehr von Hoffnung und Zuversicht getragen und wurden – analog zur politischen Entwicklung – immer pessimistischer. Natürlich ist der Frust groß, dass meine optimistischen Prognosen nicht eingetroffen sind. Aber vielleicht ist es auch inkonsequent, der ägyptischen Opposition vorzuwerfen, dass sie lieber wegläuft, als sich im Parlament beschimpfen zu lassen, und selbst in Schweigen zu verfallen, weil die eigenen Prophezeiungen kläglich danebengegangen sind. Aufgeben gilt nicht. Das sollte ich eigentlich von all den Freunden in Ägypten gelernt haben, die dort Fuß gefasst haben und allen Widrigkeiten zum Trotz im Land bleiben und weitermachen. Also: Ab jetzt an dieser Stelle wieder mehr – und dank an alle, die mir dazu einen kleinen Tritt gegeben haben. Dann sollte ich es in Zukunft halten wie Mark Twain: Ich mache keine Vorhersagen, schon gar nicht, wenn sie die Zukunft betreffen.

Ein Jahr danach

Vor genau einem Jahr und einem Tag ist an dieser Stelle der erste Beitrag im Produktionsblog „Koulou tamam, Ägypten?“ erschienen. Zugegeben: Ein Produktionsblog ist diese Seite schon lange nicht mehr. Das Buch ist im Mai erschienen, hat seine Leser gefunden und dem einen oder anderen vielleicht auch Zusammenhänge aufzeigen können, die er zu zuvor noch nicht gesehen hat.

Vier Mal war ich in diesem Jahr in Ägypten – und erlebte, wohl wie die meisten, eine schlimme Achterbahnfahrt. Hoffnung und Optimismus wechselten manchmal täglich mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem muss ich sagen, dass meine Grundstimmung am Ende dann eher ins Positive gerichtet war. Da ich mich für das Buch auch sehr intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandergesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sich Ägypten zwar häufiger in völlig hoffnungslosen Situationen befand, aber sich irgendwie immer daraus befreien konnte. Zum Beispiel die Suezkrise oder die katastrophale Niederlage nach dem Sechstagekrieg.

Getreide und Energie werden in Ägypten knapp und teuer. Hier die etwa einen Kilometer Lange Schlange vor einer Tankstelle in Hurghada. Foto: psk

Dieses Mal geht mir so langsam der Glaube daran verloren. Einerseits sind da sie Nachrichten, die direkt aus Ägypten kommen. Nicht über die normalen Kanäle, sondern über Blogs, wie etwa Anderswo: Leben in Hurghada. Was da zu lesen ist, ist zutiefst erschütternd und verstörend. Andererseits weiß nun jeder, der das Land kennt, dass das Schlimmste ja erst noch im Frühjahr kommen wird. Wenn es wirklich zu explodierenden Getreidepreisen auf dem Weltmarkt kommt, wenn der IWF wirklich auf den Abbau der Lebensmittel- und Energiepreise besteht, was dann? Wenn das alles stimmt, dann sollen sich die Preise für Grundnahrungsmittel vervierfachen – und das in einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung schon jetzt nicht mehr genügend Geld zum Leben hat.

Die Moslembrüder drängen mit aller Gewalt an die ganze Macht. Gut. Vergessen wir mal für einen Augenblick solche Kleinigkeiten wie Freiheit oder Demokratie. Sagte nicht schon Bert Brecht: Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Eben. Die für mich vielleicht schockierndste Nachricht in diesem Jahr war nicht Mursis Griff zur Allmacht, es waren nicht die immer wieder schlimmen Bilder vom Tahrir oder neuerdings von vor dem Präsidentenpalast. Nicht einmal die grauenhaften Ereignisse im Stadion von Port Said am 1. Februar haben mich im Innersten so beunruhigt, wie die aktuellen Bevölkerungszahlen. Inzwischen gibt es auf der Welt über 90 Millionen Ägypter. Bislang war man von 80 Millionen ausgegangen. Als ich zum ersten Mal ins Land kam, und das ist nun über 20 Jahre her, waren es noch 60 Millionen. Die Bevölkerung wächst also um mehr als eine Million im Jahr. Man stelle ich das mal vor: In Deutschland würde jedes Jahr irgendwo in der Republik plötzlich eine Stadt in der Größe Köln auftauchen – einfach so.

Ägypten war einst die Kornkammer des Mittelmeerraums. Inzwischen reichen die Anbauflächen bei weitem nicht mehr, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Ägypten muss also Getreide einführen – und das auch noch sobventionieren, damit sich die Menschen überhaupt ihr Brot leisten können. Und nun sind da also die Moslembrüder. Dass sie fromm sind und zu islamischen Werten zurück wollen und die auch der gesamten Bevölkerung überstülpen wollen, lassen wir mal beiseite. Jeder darf nach seiner Facon selig werden. Aber leider gehören zu den islamischen Werten auch zwangsläufig große Familien (warum eigentlich?). Zu den scheinbaren islamischen Werten gehört auch, dass ein Mann möglichst viele Söhne haben sollte und die Töchter nun nicht ganz soviel zählen. Daran werden die Moslembrüder natürlich nicht rütteln.  Sogar Anwar al Sadat, der selbst ein sehr frommer Moslem war, hatte ein Programm zur Familienplanung auf den Weg gebracht und der Erfolg war ziemlich genau null – wenn man die Bevölkerungsentwicklung betrachtet.

Ist solch ein Programm von den Brüdern zu erwarten? Ich versuch mir gerade vorzustellen, wie die Köpfe der Bruderschaft (die ja angeblich nicht dumm sind) dem Mob, den sie auf die Straße geschickt haben, ganz vernüftig die Vorzüge einer Ein-Kind-Familie darlegen. Nein, natürlich sind die Brüder darauf angewiesen, ihre Anhänger mit traditionellen Ansichten bei Laune zu halten. Und genau hier versündigen sich die Moslembrüder an ihrem Land. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Macht, die Unterdrückung der Opposition sind das eine, aber ein ganzes Volk sehenden Auges dem Hungerelend preiszugeben ist noch einmal etwas ganz anderes. Natürlich spekulieren sie in Ägypten auf die Hilfe ihrer arabischen Brüder. Sie wissen ja genau, dass reiche Scheichs aus den Emiraten, Kuweit und Saudi Arabien ihr Geld längst anderweitig angelegt haben: Zum Beispiel in riesige Weizenfelder in Äthiopien(!). Die Ernte landet nicht etwa auf dem Weltmarkt, sondern in riesigen Getreidesilos als wunderbares Spekulationsobjekt für Situationen, wie sie etwa im Frühjahr weltweit drohen.

Die arabischen Brüder werden sich ihre Hilfe aber sehr teuer bezahlen lassen. Und wenn in der Historie auf eines Verlass war, dann auf die Tatsache, dass es unter den arabischen Völkern einfach mal gar keine Solidarität gibt. Schon seit der Antike haben sie sich gegenseitig stets übers Ohr gehauen und selbst der Koran ist voll von solchen Geschichten. Es könnte also gut sein, dass sich die Brüder völlig verspekulieren, wenn sie auf nachbarschaftliche Solidarität setzen.

Ob sich die Opposition viel besser angestellt hätte, wag ich jetzt mal zu bestreiten. Untereinander waren sie seit Beginn der Revolution schon wie Hund und Katz‘. Präsident Mursi hat sie jetzt wieder ein wenig zueinander gebracht. Trotzdem: Eine Werbung für die Demokratie ist das Gehabe der „demokratischen“ Opposition auch nicht. Sie haben es den Brüdern im letzten Jahr schon sehr leicht gemacht. Ich glaube ich habe es an dieser Stelle auch schon mal so geschrieben: Es ist leichter eine Demonstration zu organisieren als eine parlamentarische Mehrheit.

Wenn das Jahr zu Ende geht, haben wahrscheinlich alle Beteiligten gelernt, dass Demokratie eine verflixt schwierige Sache ist, die nur dann gedeihen kann, wenn sich alle nicht nur an Spielregeln, sondern auch an gute Sitten halten. Für die Mehrheit heißt das, die Minderheit nicht mit aller Gewalt zu unterdrücken, und für die Minderheit bedeutet das, nicht einfach wegzurennen, nur weil man keine Mehrheit hat.

Es war kein leichtes Jahr für Ägypten. Und das kommende wird noch schwieriger. Ich gebe zu, dass mir mein Optimismus jetzt ein wenig abhanden gekommen ist. Aber mir bleibt der Trost, dass sich in diesem Land alles ganz schnell wieder ändern kann. Im letzten Januar sagte mir eine gute Freundin, dass sie fürchte, bis spätestens Juni sei hier alles vorbei und sie müsse wieder nach Deutschland. Es kam am Ende alles ganz anders.