Die Macht der Generale

Die Frage kommt, aber leider viel zu selten. Manchmal fragen mich Leute: „Woher kommt eigentlich die große wirtschaftliche Macht der Militärs in Ägypten?“ Komisch eigentlich. Man kann sich ja durchaus mal die Frage stellen, warum sich eine riesige Armee nicht auf ihre Kernkompetenz beschränkt und einfach Armee ist. Im Gegenteil: gerade ihre Kernkompetenz scheint ja völlige Nebensache zu sein. Gerade die, die am lautesten beklagen, dass die Armee nun wieder die Strippen zieht, haben sich offenbar mit dieser Grundfrage noch nie beschäftigt. Dabei könnte sie von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung des Landes sein.

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

GAMAL ABDEL NASSER (links; hier mit König Feisal von Saudi-Arabien und PLO-Führer Jassir Arafat) verordnete Ägypten eins die volle Autarkie. Foto: Al Ahram

Die Ursprünge für diese wirtschaftliche Machtfülle dürften bei Gamal Abdel Nasser liegen. Mit der Gruppe der „Freien Offiziere“ putschte er 1952 König Faruk von der Macht, die er zwei Jahre später entgültig an sich riss. Nasser hatte eine ganz klare Leitlinie, und die hieß Unabhängigkeit. Nach der Quasikolonialzeit unter den Briten suchte Nasser für Ägypten die bedingungslose Unabhängigkeit, nicht nur staatlich, sondern auch diplomatisch und vor allem wirtschaftlich. Mit dem Regierungschefs von Indien und Jugoslawien, Nehru und Tito gründete er die „Blockfreien Staaten“. Die wollten im kalten Krieg weder von den Amerikanern noch den Sowjets abhängig sein.

Wenn man allerdings über eine rückständige Industrie, wie Ägypten verfügt, ist es relativ schwierig wirklich wirtschaftlich unabhängig zu sein. Trotzdem forderte Nasser von seinem Land die völlig Autarkie: „Von der Nähnadel bis zur Atomrakete“ müsse alles im Land selbst hergestellt werden. So wird die Sache schnell klar: Wenn Autarkie Staatsziel wird, dann muss im Zweifel auch die Armee ran, um dieses Staatsziel zu erreichen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass Nasser seine Ziele jetzt nicht unbedingt zu hunderprozent umsetzen konnte. Um ehrlich zu sein, ist er mit seinen Projekten, abgesehen vom Nasserstaudamm ziemlich kläglich gescheitert. Am Ende landete er in sowjetischer Abhängigkeit und was von der ägyptischen Autoindustrie übrig geblieben ist, ließ sich vor ein paar Jahren noch beim Minibusfahren in Hurghada besichtigen. Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht – ja nach dem – mit Entsetzen oder Erheiterung an die Eltramco Busse. Was blieb, war ein immer weiter wachsendes Wirtschaftsimperium des Militärs. Nur warum wuchs es nur? Ganz einfach: Es dient bis zum heutigen Tag der wirtschaftlichen Absicherung ausgeschiedener Militärs.

Jeder, der verlangt, dass die Militärs ihrer wirtschaftlichen Macht entsagen, muss zwangsläufig auch eine Antwort darauf finden, wie er die daraus folgenden schweren sozialen Verwerfungen verhindern will. Es geht ja nicht nur darum, dass ein paar Generale in den Ruhestand versetzt werden.

Genau so wenig, wie der Westen eine Antwort darauf hatte, was die Alternative zur Räumung der MB-Lager in Kairo gewesen wäre, hat er natürlich eine darauf, was mit dem, zum Teil ja maroden, Wirtschaftsimperium der Generale werden soll. Gerade wir in Deutschland haben ja erlebt, was es heißt, eine marode Industrie zu übernehmen. Nun sind die sozialen Grundlagen in Ägypten deutlich schwächer, als sie in der DDR 1990 waren.

Dass sich der Westen auf recht unsachliche Weise mit den derzeitigen Umständen in Ägypten auseinandersetzt, führt zu der paradoxen Situation, dass die Macht des Militärs nicht gemindert, sondern gestärkt wird. Mit jedem kritischen Wort aus dem Ausland wächst die Sympathie für Abdel Fatah al Sissi. Interessanter ist aber ein anderes Phänomen: Die ägyptische Jugend entdeckt gerade ein neues Idol, so hört man: Gamal Abdel Nasser. Ob das dem Westen gefällt lassen wir mal dahingestellt. Aber er hat sicher selbst dazu beigetragen.

Wenn Beschwichtigung zum Brandsatz wird

Mir scheint das alles ein wenig absurd zu sein. Ehe die Protestlager der Moslembrüder geräumt wurden, hat die aktuelle Regierung sechs Wochen lang immer wieder Gesprächsangebote an die Moslembrüder gemacht, die sich jedem Gespräch komplett verweigert haben. Trotzdem wurde die provisorische Regierung sowohl von den USA, als auch von der Bundesrepublik beständig kritisiert und zu Verhandlungen gemahnt. Einer der renommiertesten Diplomaten in Deutschland ist Jürgen Chrobog. Er ist selbst mit einer Ägypterin verheiratet, war der Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher und Außenstaatssekretär unter Joschka Fischer. Ach ja, Botschafter in den USA war er auch noch. Der Mann versteht also etwas von seinem Job.  Und er sagt sehr Erstaunliches: »Die ständige Kritik und auch die relative Unterstützung der Moslembrüder heizt eigentlich mehr den Konflikt an, als dass es ihn ausgleicht.«

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Ägypter schicken eine Botschaft in die Welt hinaus

Tatsächlich verbitten sich immer mehr Ägypter eine Einmischung von außen. Die Facebookseite Friends of Egypt hat nun sogar eine »Nachricht an die ganze Welt« verbreitet, das Ausland möge sich doch bitte zurückhalten. Die Verbitterung wächst – und das Gefühl, es mit falschen Freunden zu tun zu haben. Mancher meint, dass sich das Land lieber einer Diktatur der Moslembrüder hätte ausliefern sollen, als Mursi von der Macht zu vertreiben. Dabei sind ja viele Ägypter, die mit Mursi gar nichts am Hut hatten, todtraurig darüber, dass das erste demokratische Experiment mit einem gewählten Präsidenten so kläglich scheiterte.

Angesichts von mehr als sechshundert Toten fällt es natürlich sehr schwer, sich zurückzuhalten. Aber viele Ägypter sehen das ganz anders. Ein ägyptischer Soziologe etwa meinte: »Bei uns sterben jedes Jahr 30.000 Menschen im Straßenverkehr. Darüber regt sich niemand auf.« Tatsächlich scheint das Mitleid mit den Moslembrüdern, die nun versuchen, ein ganzes Land in Geiselhaft zu nehmen, in Ägypten selbst nicht mehr besonders ausgeprägt zu sein.

Dass El Baradai die Räumung der Camps zum Anlass nahm, seinen Rücktritt einzureichen, wirft ein weiteres Schlaglicht auf die völlig unterschiedliche Wahrnehmung der Ereignisse. Während Außenminister Guido Westerwelle den Schritt des ihm freundschaftlich verbundenen Nobelpreisträgers nach eigenen Worten verstehen und nachvollziehen kann, betrachten viele Ägypter El Baradais Rückzug als ziemlich feige Fahnenflucht. Mehr noch – sein Rückzug und die verständnisvollen Worte des deutschen Außenministers bestätigen nur den Eindruck, den viele Ägypter von El Baradai schon seit zweieinhalb Jahren haben: Er ist ein wendischer, rückgratloser Politiker, der an den Fäden des Westens hängt.

War die blutige Räumung der Protestcamps wirklich so nötig? Tatsächlich wurde ja kurz der alberne Versuch unternommen, die Räumung zu einem Kairoer Kommunalproblem herunterzuspielen. Die Camps müssten deshalb sofort geräumt werden, weil sie wichtige Verkehrsverbindungen blockierten.

Tatsächlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Räumen oder Aushungern. Doch was wäre passiert, wenn man sich fürs Aushungern entschieden hätte? Wenn die Moslembrüder in einer Woche kleine, vom Tod gezeichnete Kinder präsentiert hätten oder elend verdurstete Frauen? Die Schuld wäre ja wieder nicht den Moslembrüdern gegeben worden, sondern der provisorischen Regierung – warum auch immer.

So traurig es klingt: Aber die derzeit Herrschenden am Nil sind von dem Moslembrüdern in eine Wahl hineingetrieben worden, die irgendwo zwischen Pest und Cholera liegt. Natürlich sehen die, die mit Bulldozern auffahren, vor der Welt immer schlechter aus, als die, die nur mit Steinen werfen. Es wäre ja leicht zu sagen: Das haben sie jetzt von ihrem Putsch. Andersherum: Erst durch den Umsturz sieht ja die Welt, zu was für rigorosen Handlungen die Moslembrüder fähig sind. Es werden wieder friedliche Tage in Ägypten einkehren und das hoffentlich bald – aber ich fürchte, dass bis dahin noch einiges Blut vergossen wird.

Kommt jetzt die Ruhe nach dem Sturm?

Nach jetzigem Stand hat es in der Nacht sieben Tote gegeben. Schlimm genug, aber bedenkt man, wieviele Menschen im ganzen Land auf der Straße waren, da ging es doch eigentlich glimpflich ab. Die Berichterstattung in Deutschland war mal wieder zwischen kurios und Zum-Haare-Raufen. Der neue Korrespondent des ZDF, Thomas Ader, stammelte mehr als das er sprach – der arme Kerl stand offenbar Todesängste aus. Als ein oder zwei Armee-Hubschrauber tief über den Tahrir flogen, stellte er fest, dass die Stimmung gekippt sei, weil die Menge gejohlt habe – was immer er damit sagen wollte. Es kam jedenfalls so an, als hätten die Demonstranten Angst vor dem Militär. Hm. Soviel zur Sachkunde deutscher Korrespondenten.

Vor zwei Jahren haben wir in Deutschland gelernt, dass auf den Tahrir 300.000 bis 400.000 Menschen passen. Es hätte eigentlich ein Leichtes sein müssen, die Menschenmassen auf und um den Tahrir zu schätzen. Wenn die Nilbrücke und die Corniche zum Platzen voll sind und ebenso die Straße die zum Tahrir führen, ist es einfach mal Volkverdummung, wenn  es in einem öffentlichen-rechtlichen Sender in den Hauptnachrichten heißt: „Einige Zehntausend Menschen haben sich auf dem zentralen Tahrirplatz versammelt, um gegen den ägyptischen Präsidenten Mursi zu demonstrieren.“ Mein Gott, was für ein schlechter Journalismus! Immerhin, im Morgenmagazin der ARD war davon die Rede, dass es vielleicht die größte Demonstration war, die das Land je gesehen hat. Als größte „Demonstration“ gilt noch immer die Beerdigung von Gamal Abdel Nasser. Damals sollen fünf Millionen Menschen den Trauerzug gebildet haben. Falls jemand sich für meine Schätzung interessiert: Drei bis vier Millionen werden es auf und um den Tahrir gewesen sein. Ich lass mich aber gerne belehren.

Aber das Köpfe Zählen ist ja vielleicht nicht das spannenste. Erschreckender fand ich viel mehr, dass die Anhänger Mursis – zumindest in den Beiträgen, die ich gesehen habe – alle mit Helm, Schild und mindestens Schlagstöcken bewaffnet waren. Das sagt eigentlich alles. Allerdings, der Einwand gilt ja auch, wir wissen nicht, ob da gerade eine Gruppe von zehn Salafis ein schönes Motiv für einen Kameramann darstellten und genau diese Sequenz X-Mal um den Globus wanderte. Trotzdem bleibt ja wohl auch eines klar: Ich habe bislang noch von keinem Oppositionellen gehört, dass man die Moslembrüder umbringen müsste. Von der anderen Seite hörte sich das schon viel bedrohlicher an.

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee. Foto: Ashraf Sahleh

GROSSE DEMONSTRATION auch in Hurghada. Schon am Nachmittag war die Sheraton-Road voller Demonstranten. Hier die Volksfetsstimmung vor der neuen Moschee.
Foto: Ashraf Sahleh

Ein weiterer Punkt, der mich sehr überrascht und auch gefreut hat: Erstmals gab es in Hurghada eine sehr große und offensichtlich auch sehr friedliche Demonstration mit Volksfestcharakter. Manch einer wird das mit zwiespältigen Gefühlen aufgenommen haben. So friedlich das auch gewesen sein mag, die Reiseveranstalter haben diese Bilder sicher nicht gerne gesehen. Trotzdem: es war richtig. Sind wir doch mal ehrlich: der Tourismus macht Ägypten derzeit zu einem zweigeteilten Land. Das Niltal wird gemieden. Fast alle Kreuzfahrschiffe liegen still. An der Küste ist alles friedlich und da hoffen sie nur, dass in Kairo nicht all zu laut demonstriert wird, damit nicht auch noch die letzten Gäste am Roten Meer verscheucht werden. Dabei hat der Tourismus von der Revolte gegen Mursi am meisten zu gewinnen. Setzen sich der und die Brüderschar durch, dann wird die Islamisierung des Fremdenverkehrs nur noch eine Frage der Zeit sein.

Doch nun? Was tun? Spannend wird sein, was nach dem Ultimatum, das am Dienstag um 17 Uhr abläuft, passieren wird – oder eben auch nicht. Natürlich wird Mursi nicht weinend zurücktreten. Aber wenn er es nicht tut, dann ist kompletter ziviler Ungehorsam angesagt. Das klingt nach Generalstreik. Der würde das Land dann wirtschaftlich komplett zusammenbrechen lassen. Das müßte dann aber konsequenter Weise sofort das Militär auf den Plan rufen, weil ja fast die Hälfte aller Fabriken ihm gehören. Vielleicht ist das ja das Kalkül. Möglicherweise kommt nach dem Sturm jetzt die ganz große Ruhe, weil das Land plötzlich still steht. Und das ist viel bedrohlicher für die Regierung als zehn Großdemos in Kairo. Stillstand könnte jetzt Kollaps bedeuten. Aber vielleicht braucht es das ja, vielleicht muss es erst kollabieren, damit man von vorne anfangen kann.

Was das Land jetzt bräuchte, wäre ein ehrlich Makler. Einen, der die tief gespaltenen Gruppen wenigstens dazu bringt, miteinander zu reden. Doch woher soll der kommen? Die Ägypter sind viel zu stolz, um einen Ausländer zu akzeptieren. Ich dachte erst an jemand wie Boutros Boutros-Ghali. Der ist allerdings 91 und ich weiß nicht ob er gebrechlich und dement oder noch fit und geistig rege ist. Na ja, Georgio Napolitano  ist zwei Jahre jünger und hat Italien gerade mal wieder vor dem Untergang gerettet. Doch an einer Personalie wie Boutros-Ghali zeigt sich das ganze Dilemma. Der wird von den Brüder aus einem Grund nie akzeptiert werden: Er ist Kopte. Die beiden Lager sind nicht einmal in der Lage einen Vermittler zu finden. Miteinander reden tun sie nicht, weil sie einander zu tiefst misstrauen.

Doch über all die Gräben hinweg müßten sie doch auch über Gemeinsamkeiten zueinander finden. Die einzige Industrie, die in Ägypten derzeit Hochkonjunktur haben dürfte, ist die Wimpel- und Fahnenwirtschaft. Alle schwenken sie doch gerade die ägyptische Flagge, egal zu welcher Gruppierung sie gehören. Das heißt sie gehen aus Liebe zu ihrem Land auf die Straße. Das wäre doch schon einmal ein Anfang.

Sissi soll’s richten?

Für mich gehört zu den erschütterndsten Folgen der Revolution in Ägypten, dass es nun ausgewiesene Demokraten sind, die laut einen Militärputsch herbeirufen. Wie verzweifelt müssen die einstigen Revolutionäre sein, wenn sie Freiheit und Demokratie auf diese Art und Weise beerdigen? Allerdings darf der europäische Beobachter dabei eines auch nicht außer acht lassen: Das Militär genießt in Ägypten ein überaus hohes Ansehen. Im Gegensatz übrigens zu Polizei und Sicherheitskräften. Daran änderte sich auch nichts, als der Oberste Militärrat vor einem Jahr dann doch recht kläglich an der stets ungeliebten Regierungsverantwortung scheiterte.

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit.                 Foto: psk

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit. Foto: psk

Vor einem Jahr dann ereignete sich Erstaunliches. Mohammed Mursi stürzte den Militärrat und seinen Chef, Feldmarschall Tantawi. Ob das ein genialer Schachzugs Mursis war, oder doch nur ein abgekartetes Spiel, darüber wird heute noch trefflich gestritten. Allerdings gibt es aus der heutigen Sicht nur noch ganz wenige, die Mursi einen solchen Geniestreich zutrauen. Entweder war er damals gut beraten, oder Tantawis Rausschmiss war das berühmte Korn, das auch mal ein blindes Huhn findet.

Sein Nachfolger heißt Sissi – ja, er heißt so und nun keine Witze mit Namen bitte – und der hat sich bislang stets zurückgehalten. Nun ist er ja nicht gerade ein Mann der Opposition. Aber seine Äußerungen in der Vergangenheit klangen nachgerade demokratietragend. Ein Eingreifen der Armee würde Ägypten in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. So war es im Handelsblatt zu lesen. Mann kann es aber auch so interpretieren, dass er meinte: „Hände weg von den Moslembrüdern.“ Die haben das allerdings schon alleine geschafft. Wahrscheinlich gelang es in der bisherigen Weltgeschichte nur den Roten Khmern, ihr Land nach der Machtübernahme noch schneller herunterzuwirtschaften.

Inzwischen klingt Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi auch ein wenig anders. Er warnte nun, dass das Militär notfalls doch eingreifen werde, wenn Ägypten, in einem „dunklen Tunnel“ zu versinken drohe, berichtet der Zürcher Tagesanzeiger. Vorausgegangen waren Drohungen von Mursi-Anhängern, Demonstranten am 30. Juni bei der geplanten Großdemonstration totzuschlagen. Morddrohungen gegen die Opposition aus dem islamistischen Lager sind inzwischen freilich an der Tagesordnung.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich das Militär erstmals so eindeutig positioniert hat. Es zeigt, dass die Moslembrüder ganz rasant auch an Ansehen verlieren. Und es zeigt weiter, dass es das Militär seinerseits mit der Angst zu tun bekommt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das die große wirtschaftliche Macht: 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Militärunternehmen erwirtschaftet. So, wie die Wirtschaft im letzten Jahr zusammenkrachte, geht es der Armee inzwischen richtig ans Eingemachte. Zum anderen fürchten die Militärs auch um ihre Popularität im Volk. Es ist ja nicht so, dass von den rund 47 Prozent, die die Brüder gewählt hatten, die meisten Mord und Totschlag befürworten. Im Gegenteil.

Und dann gibt’s da noch eine andere Meldung, die al-Sissi wohl bestätigen dürfte. Südlich von Kairo wurden jetzt erstmals vier Schiiten von einem 3000-köpfigen Mob umgebracht. Es waren mal wieder Salafisten-Prediger, die offen zu Gewalt an etwa 40 Schiiten aufgerufen hatten. Im Parlament machen die Moslembrüder, aller heiligen Eide zum Trotz, seit einem Jahr gemeinsame Sache mit der Partei „El Nur“, dem politischen Flügel der Salafisten. Die haben nun nicht mehr nur christliche Kopten, sondern auch andersgläubige Moslems im Visier. Das könnte die Geduld der Mehrheit der Ägypter so langsam überstrapazieren

Ob der 30. Juni, wie viele Oppositionelle hoffen, der Auftakt zur „Zweiten Revolution“ sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Aber die Anzeichen auf einen Zerfall der Mursi-Ära werden immer deutlicher. Das sehen offensichlich auch andere so. Vor knapp einer Woche beklagte ich noch, wie rasant das Ägyptische Pfund auseinander bricht. Da bekam man für einen Euro neun Pfund und 36 Piaster. Heute sind es neun Pfund und 18 Piaster. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen können.

Aufgeben gilt nicht

Vor mehr als einem halben Jahr habe ich in diesem Blog den letzten Beitrag veröffentlicht. Nach einem Jahr dachte ich, dass es jetzt mal gut sein müsste. Allerdings war mir aber, angesichts der ägyptischen Politik – darf man dieses Chaos überhaupt so benennen? – auch die Lust vergangen, noch weiter zu schreiben. Außerdem kam ich mir ziemlich bescheuert vor. Tatsächlich hatte ich eine Zeit lang daran geglaubt, dass die Moslembrüder die Kurve bekommen würden. Am Ende behielten die Recht, die von Beginn an vor der Bruderschaft gewarnt hatten.  Doch selbst die sind nun von dem Ausmaß der Konfusion ziemlich überrascht.

Gute Nacht, Ägypten?

Gute Nacht, Ägypten?

Diejenigen, die den Brüdern zutrauten, das Land zu ordnen oder wenigstens richtig zu verwalten, verwiesen ja nicht ohne Grund darauf, dass die Bruderschaft, die in diesem Jahr immerhin 85 Jahre(!) alt wird, stehts straff geführt und sehr gut durchorganisiert war. Und nur dieser Organisationsgrad habe es möglich gemacht, dass die Moslembrüder auch in der Zeit, da sie verboten waren, effektiv weiter arbeiten konnten und sogar wuchsen.

Von höherer Organisation- und Verwaltungskunst ist heute bei den Brüderen nichts mehr zu erkennen. Im Gegenteil. Die Versorgungslage wird von Tag zu Tag schlechter. Das Stromnetz steht vor dem Kollaps, die Produktion wird immer geringer, die Preise explodieren, die Einnahmen aus dem Tourismus brechen weg, das ägyptische Pfund zerfällt (aktueller Kurs heute: 1:9,36). So ziemlich jedes Gebiet in Wirtschaft und Gesellschaft ist heute deutlich schlechter dran, als zu den Zeiten Mubaraks. Auch Sitten und Moral verfallen – was nun ausgerechnet bei den islamischen Sittenwächtern seltsam anmutet. Im Februar wurde ich auf dem Flughafen in Hurghada Zeuge einer unfassbar bizarren Szene: Da kam es zu einer Prügelei zwischen Angehörigen des Sicherheitspersonals, weil sie sich nicht darüber einigen konnten, welches von drei Durchleutungsgeräten für die Passagiere benutzt werden sollte (Für alle, die sich auskennen: Das ganze spielte sich zwischen Passkontrolle und Duty-Free-Bereich ab).

Die jüngsten Schlagzeilen aus Ägypten sind auch alles andere als ermutigend. Mursi hat acht neue Gouverneure ernannt. Besonders „feines Gespür“ bewies er bei der Ernennung des Gouverneurs von Luxor. Adel Asaad al-Chajat gehört zur Gamaa al Islamiyya und damit zu der Organisation, die 1997 für das fürchterliche Blutbad am Hatshepsuttempel vor den Toren von Luxor verantwortlich gemacht wird.

Aussicht auf Besserung? Viele Ägypter schielen teils hoffnungsvoll, teils angstvoll auf den 30. Juni. Da sind in Kairo wieder große Proteste angekündigt. Mittlerweile schwirrt schon das Wort von der „Zweiten Revolution“ durchs Internet. Als hätten sie von der ersten noch nicht genug. Und dann ist da noch die Sache mit dem Militärputsch. Selbst überzeugte Demokraten sehnen sich den inzwischen herbei, weil sie glauben, dass dann wieder Ruhe und vor allem eine gewisse Ordnung im Land einkehren. Aber die Militärs zieren sich. Sie müssten ja dann Verantwortung übernehmen, das haben sie ja schon nicht getan, als sie in Form des Obersten Militärrats (SCAF) an der Macht waren. Mursi und seine Brüder haben im letzten Jahr schon weiß Gott viel Unheil angerichtet. Aber was der SCAF hinterlassen hatte, war auch alles andere als ein geordnetes Haus. Und dann noch eines: Als Mursi vor einem Jahr den greisen Feldmarschall Tantawi kurzerhand vor die Tür setzte, ordnete er auch den Militärrat neu. Nun muss man sicher nicht dreimal raten, wieviele Kritiker Mursis oder der Moslembrüder in dem höchsten Militärgremium sitzen.

Eine andere ägyptische Hoffnung stirbt derzeit jenseits des Mittelmeeres auf dem Taksimplatz in Istanbul. Rund zehn Jahre lang hat in der Türkei eine islamische Partei der Welt gezeigt, dass sie auch Demokratie kann – und das noch mit bis zu neun Prozent Wirtschaftswachstum. Das Thema dürfte nun auch begraben werden. Die Türkei als Vorbild für Ägypten? Fatalerweise scheint es ja umgekehrt zu sein. Erdoğans Rhetorik erinnert fatal an Mursis Geschrei mit dem Tenor „Wir haben die Mehrheit, wir dürfen alles“.

Wenn ich auf die Blogbeiträge vom vergangenen Jahr schaue, dann waren sie am Anfang eigentlich sehr von Hoffnung und Zuversicht getragen und wurden – analog zur politischen Entwicklung – immer pessimistischer. Natürlich ist der Frust groß, dass meine optimistischen Prognosen nicht eingetroffen sind. Aber vielleicht ist es auch inkonsequent, der ägyptischen Opposition vorzuwerfen, dass sie lieber wegläuft, als sich im Parlament beschimpfen zu lassen, und selbst in Schweigen zu verfallen, weil die eigenen Prophezeiungen kläglich danebengegangen sind. Aufgeben gilt nicht. Das sollte ich eigentlich von all den Freunden in Ägypten gelernt haben, die dort Fuß gefasst haben und allen Widrigkeiten zum Trotz im Land bleiben und weitermachen. Also: Ab jetzt an dieser Stelle wieder mehr – und dank an alle, die mir dazu einen kleinen Tritt gegeben haben. Dann sollte ich es in Zukunft halten wie Mark Twain: Ich mache keine Vorhersagen, schon gar nicht, wenn sie die Zukunft betreffen.

Warum Ägypten kein islamistischer Gottesstaat wird

Was den neuen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi betrifft, war ich lange Zeit hin und her gerissen. Ich fragte mich, ob der neue Präsident ein Vollidiot oder vielleicht doch ein begnadeter Politiker ist. Ersteres stimmt offensichlich nicht, zweiteres steht noch aus. Allerdings hat Mursi in den letzten vier Wochen mit drei Aktionen überrascht:

  1. Er hat mit einem Handstreich den Militärrat entmachtet und dessen Vorsitzenden Mohammed Tantawi kaltgestellt.
  2. Er hat einen moslembrüder-kritische Journalisten aus dem Knast geholt, der dort in U-Haft wegen des Verdachts der Präsidentenbeleidigung saß.
  3. Er hat Irans Präsident Achmadinedschad während er Konferenz der Blockfreien in Teheran brüskiert und isoliert.

Seine Kritiker sind einigermaßen verblüfft. Doch ihre Gegenargumente beruhen derzeit nur auf Mutmaßungen und Aussagen aus Mursis Vergangenheit, konkret im Wahlkampf. Zumindest seine bisherigen Taten sprechen eine andere Sprache. Grundsätzlich gilt wohl eines: Obwohl Mursi offiziell die Moslembrüder verlassen hat, bleibt er natürlich ein frommer und wohl auch sehr konservativer Moslem – was im Übrigen der im Westen so hochverehrte Anwar al Sadat auch war, dessen Zibeba so echt wie unübersehbar war. Sadat war es übrigens, der die ägyptische Verfassung durch ein ganz entscheidendes Wort veränderte, nachdem nämlich Koran und Scharia nicht eine, sondern die Quelle des ägyptischen Rechts seien. Man möge sich den weltweiten Aufschrei vorstellen, wenn Mursi etwas Ähnliches verfügen würde. Das wird er freilich kaum tun. Wer allerdings glaubt, dass die drei genannten Punkte nur eine große Show waren, um den Westen ruhigzustellen, der könnte nicht falscher liegen. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits spielt der Westen in Mursis außenpolitischer Strategie eine eher untergeordnete Rolle, andererseits lohnt es sich, die Hintergründe der drei spektakulären Entscheidungen genauer zu betrachten.

Tantawis Sturz war ein Geniestreich, der allerdings direkt mit dem Grenzzwischenfall im Sinai zusammenhängt, bei dem 16 ägyptische Soldaten ums Leben kamen. Für Ägypten ganz besonders peinlich: ausgerechnet die Israelis – denen einige Hardliner den Zwischenfall in die Schuhe schieben wollten – haben die ägyptischen Militärs vor dem Anschlag gewarnt. Passiert ist offenbar nichts. Kurze Zeit erregten sich die Ägypter darüber, dass Mursi nicht einmal zur Beerdingung der 16 Soldaten kam. Was wie eine unfassbare Stoffeligkeit aussah, entpuppte sich bald als gerissener Winkelzug. Dadurch, dass Tantawi alleine bei der Trauerfeier erschien, wurde der Blick auf ihn und dadurch auch auf die Frage nach der Verantwortung gerichtet – die Mursi wenige Tage später auf sehr eindrückliche Art beantwortet hatte. Nicht einmal in der Armeefühung erhob sich auch nur noch ein Finger für Tantawi. Offiziell machte Mursi ihn zu seinem Berater, verlieh ihm einen Orden und verabschiedete ihn mit allen Ehren. So elegant wurde noch selten der eigentliche Führer eines Landes aufs Abstellgleis geschoben.

Freie Bahn also für die Islamisten? Noch vor zwei Wochen gab es Befürchtungen, dass die Demonstrationen gegen die Macht der Moslembrüder am 24. August zu blutigen Ausschreitungen führen könnten, zumal ein Imam oppositionelle Demonstranten buchstäblich zum Abschuss freigegeben hatte. Es blieb bei den Demonstrationen gegen die Moslembrüder erstaunlich ruhig. Nicht nur das. Kurz zuvor hatte Mursi per Dekret verfügt, dass der Journalist Islam Affifi aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei, in die er nur Stunden zuvor gesperrt worden war. Mursi ging sogar noch weiter und verbot in Zukunft jede Untersuchungshaft für regierungskritische Journalisten. Mursi-Kritiker monieren allerdings, dass der Prozess gegen Affifi und andere fortgesetzt werde.

Und dann war da noch die Reise zu den Blockfreien nach Teheran. Der Westen geriet schon in Schnappatmung bei dem Gedanken daran, dass Mursi dem Teufels-Perser Achmadinedschad die Hand geben könnte. Eine mögliche Koalition des Moslembruders mit den radikalislamischen Jüngern Chomenis wurde da an die Wand gemalt. Mursi dürfe auf keinen Fall nach Theran zum Vollversammlung der Blockfreien reisen – dessen Präsidentschaft Muris übrigens turnusgemäß übernahm. Mursi reiste, gab seinem „lieben Bruder“ ordentlich das Pfötchen – und watschte die Gastgeber wegen ihrer Syrienpolitik dann dermaßen ab, dass das iranische Staatsfernsehen in der Simultanübersetzung das Wort Syrien konsequent durch das Wort Bahrain ersetze, was in Bahrain wiederum zu Entsetzen führte. Das alles wäre dem Westen erspart geblieben, wenn Mursi nicht nach Theran gefahren wäre. Tja – hinterher ist man immer schlauer, zumal ganz offenbar bei Mohammed Mursi.

Aber das alles sind ja noch keine stichhaltigen Gründe dafür, dass er sein Land nicht zu einem islamistischen Gottesstaat machen will. Doch die Beispiele zeigen zumindest, dass Mursi ein ganz gewiefter Taktiker und offensichtlich ein ziemlich schlauer Fuchs ist. Dass eine seiner wichtigsten Aufgaben sein wird, das Land und seine Menschen zu einen, musste ihm niemand sagen. Er tut es auf eine interessante Art und Weise. Er fördert ganz offensichtlich den ägyptischen Nationalismus. Da gleicht er dann doch eher einem Gamal Abdel Nasser als einem Ajathollah Chomeni. Mit der Forderung nach Ägyptens Stärke und einer Führungsrolle in der Arabischen Welt kann Mursi über alle Parteigrenzen Punkte machen.

95 Prozent Ägyptens besteht aus Wüste.
Foto: psk

Und dann? Von nationalistischen Parolen oder Taten wird die Versorgungslage nicht besser, ändert sich nichts im Bildungssystem und auch das Gesundheitssystem gesundet davon nicht. Das vielleicht größte Problem überhaupt ist die nach wie vor explosionsartig wachsende Bevölkerung. Offziell wird noch immer von 80 Millionen Ägyptern gesprochen. Vor kurzem postete der in Kairo wirkende katholische Geistliche Msgr. Joachim Schroedel eine ganz andere Zahl. Und die wird ja einem Mohammed Mursi auch nicht verborgen bleiben. 91 Millionen Ägypter, davon leben 83 Millionen im Land – in einem Land, das zu 95 Prozent aus Wüste besteht. Ägypten, einst die Kornkammer des Römischen Reiches – kann seine Bürger nicht mehr selbst ernähren. Der Energieverbrauch liegt etwas 20 Prozent über dem, was Ägypten selbst produziert. Selbst wenn es zu einer wirtschaftlichen Gesundung kommt, frißt das Bevölkerungswachstum die Früchte sofort wieder weg.

Natürlich weiß das ein Mohammed Mursi auch. So fromm und konservativ er auch sein mag – er scheint einen sehr analytischen Verstand zu haben. Eine streng konservativ-islamische Sozialstruktur ist mit dem Ziel, das Bevölkerungswachstum zu beschränken, schlechterdings unvereinbar. Eines hat die Geschichte gezeigt: Gegen eine Bevölkerungsexplosion helfen weder Ein-Kind-Politik noch Kondome oder fromme Worte. Nur eine nachhaltige Steigerung des Lebensstandards für die große Masse der Bevölkerung wird das Wachstum eindämmen können. Dazu braucht Mursi aber alle Ägypter und nicht nur die Moslembrüder. Und über alle Religionsgrenzen hinweg gilt ja auch eines: Weder der Koran noch die Bibel haben ein Rezept gegen diese Bedrohung. Deshalb heißt es wohl zusammenzuarbeiten.

Die erste Besprechung

Trotz des Regens bin ich heute richtig beschwingt, denn die erste Buchbesprechung in einem „überregionalen Medium“ ist erschienen. Und dann gleich im Berliner Tagesspiegel. Das hat mich in sofern ein wenig überraschend getroffen, da ich sie gar nicht bemerkt hatte. Ich bin zwar Abonnent des Tagesspiegels, doch ich hatte am Sonntag einfach nicht auf den Reiseteil geachtet – warum auch immer. Normalerweise gehört er zu meiner Sonntagslektüre.

Inhaltlich finde ich die Besprechung insgesamt sehr wohlwollend. Allerdings lege ich doch Wert darauf, dass ich persönlich auf die Frage Alles klar, Ägypten? keine negative Antwort geben würde. Ich glaube, dass Ägypten trotz aller Verwerfungen insgesamt auf einem guten Weg ist, und ich glaube, dass es ein tolles Urlaubsland ist – mehr denn je.  Aber der Rückschluss des Tagesspiegel-Redakteurs Gerd Seidemann zeigt doch zwei Dinge sehr deutlich: Einerseits ist das Buch, wie er schreibt und ich selbst immer wieder betone, natürlich eine Momentaufnahme. Andererseits sind es natürlich auch die aktuellen Ereignisse, an denen sich das Buch immer wieder messen lassen muss. Dass der Machtkampf zwischen Präsident Mohammed Mursi und dem Militärrat nicht eben förderlich für die politische Stabilität im Lande ist, liegt ja nun leider auf der Hand.

Insgesamt hat mir die Rezension sehr gut gefallen, und ich hoffe, dass noch weitere ähnlich positive Besprechungen hinzukommen werden. Soweit mir bekannt ist, will das Tauchreisemagazin „Silent World“ in einer seiner nächsten Ausgaben eine Besprechung bringen.

Für „Silent World“ fliege ich im übrigen am 2. August wieder nach Ägypten. Einerseits werde ich dort alles in allem vier Reportagen und ein großes Interview machen. Andererseits will ich die Gelegenheit auch dazu nutzen, in verschiedenen Hotels und Tauchbasen noch zu lesen. Es gibt, glaube ich, schlimmere Aufgaben im Leben. Und ganz ehrlich: Die Aussicht auf knapp drei Wochen mit einer Regenwahrscheinlichkeit von genau 0 Prozent ist dann doch auch sehr verlockend.

Die sind doch alle gleich

Ist das nicht komisch? Der Satz „Alle Menschen sind gleich“ klingt schön, klingt völkerverbindend und politisch korrekt. Man ersetze nun das Wort Menschen durch Moslems. „Alle Moslems sind gleich.“ Das klingt schon weniger schön. Das impliziert, alle Moslems seien potentielle Terroristen, und der Satz müffelt auch ein wenig nach Rassismus. Trotzdem habe ich diesen Satz gestern Abend von einer Bekannten gehört, die ganz und gar nicht im Ruch steht, rassistisch zu sein. Es ging um den arabischen Frühling um die Revolutionen in Tunesien, Libyen und Ägypten – und natürlich um den Bürgerkrieg in Syrien.

Ihre These klang ziemlich einfach. Egal, was wo in welchem Land in Arabien passiert, am Ende wird sich der Islamismus in seiner radikalen Weise durchsetzen – also in Form zum Beispiel des Salafismus‘. Dafür bekam sie am Tisch auch noch entsprechende Unterstützung. Ich wandte ein, dass man dann genausogut bei der Euro- und Finanzkrise Länder wie Finnland und Griechenland, Holland und Spanien, Irland und Österreich oder Frankreich und Deutschland in einen Topf werfen könnte – sind ja alles Europäer. Tatsächlich gibt es in all diesen Ländern völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Krise zu lösen sein und sehr kontroverse Auseinandersetzungen darüber.

In den arabischen Ländern sieht es nicht viel anders aus. So sind zum Beispiel die jungen Monarchen Mohammed VI. von Marokko und Abdallah II. von Jordanien mit der Arabellion ganz anders umgegangen, als zum Beispiel Bashir al-Assad in Syrien. Das Ergebnis dürfte sogar den meisten Europäern bekannt sein. Natürlich gibt es auch in Marokko und in Jordanien eine größere Hinwendung zur Religion, aber von einem islamistischen Gottestaat sind beide Länder wohl weit entfernt.

Das gleich gilt auch für Ägypten. Moslembrüder hin oder her. Am vergangenen Dienstag ging es in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ weitgehend um Syrien, doch einen beträchtlichen Teil der Sendung machte auch Ägypten aus. Unter anderem war der deutsche Lehrer Günter Förschner eingeladen, der an einer deutschen Mädchenschule in Alexandria unterrichtet. Er war schon ein Jahr zuvor Gast bei Frank Plasberg gewesen. Nun bezeichnete der Lehrer die Moslembrüder als größtes Risiko für die Demokratisierung in Ägypten. Prompt handelte er sich Widerspruch vom ARD-Korrespondeten Jörg Armbruster ein. Es sei tatsächlich der Militärrat der die Demokratisierung des Landes gefährde. Armbruster gab zu, dass er die Moslembrüder auch nicht besonders schätze, aber dass sie immerhin als Sieger aus der ersten freien demokratischen Wahl in diesem Land hervorgegangen sind, das es jetzt auch schon 7.000 Jahre gebe.

Niemand kann seriös voraussagen, wie sich der arabische Frühling wirklich entwickeln wird. Die einzige Prognose, die mit Sicherheit eintreten wird, ist die, dass es eben in jedem Land unterschiedlich passieren wird. Es in in letzter Zeit Mode geworden, Tunesien und Ägypten, so wie ihren Weg zur Demokratie zu vergleichen und das Urteil fällt häufig sehr undifferenziert aus. In beiden Ländern hätten die Religiösen die Revolution für sich gekapert und würden das Land nun wenn nicht in einen Gottesstaat, so doch zu einem autokratischem Regime führen. Das gleiche wurde auch für Libyen vorhergesagt. Dumm gelaufen, denn bei den Wahlen vor wenigen Tagen gab es eben keinen haushohen Sieg von Gotteskriegern, sondern einne Erfolg der Liberalen.

Und dann noch zu der wohlfeilen Legende der ersten freien Wahlen in arabischen Ländern. Nein, die waren kein Produkt des arabischen Frühlings und kein Demokratiegeschenk der Amerikaner im besetzten Irak. Gerne wird in Europa unterschlagen, dass es bereits vor 20 Jahren in Algerien freie Parlamentswahlen gab, die dann allerdings – auch auf massiven Druck Frankreichs – abgebrochen wurden, weil sich ein Sieg der islamistischen Partei FIS abzeichnete. Was sollen also die Araber von den Europäern denken? Ja, von den Europäern! Oder ist etwa bekannt, dass der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl – noch völlig besoffen vom Rausch der Wiedervereinigung – seinem Freund François Mitterand in den Arm gefallen wäre, um diesen Anschlag auf die Demokratie zu verhindern? Nein! Die Wahlen wurden annuliert. Diese Aktion hat das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, dem 120.000 Algerier zum Opfer fielen. Heute ist Algerien ein autoritärer Staat, bar jeglicher Demokratie, an dem der arabische Frühling einigermaßen wirkungslos vorbeigegangen ist. Allerdings hat das Land auch einen Präsidenten Bouteflica, der die Algerier miteinander auszusöhnen versucht.

Der ehmalige israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Avi Primor, hat in „Hart aber fair“ übrigens noch auf einen sehr interessanten Aspekt aufmerksam gemacht. Als vor zehn Jahren in der Türkei die islamische AKP an die Macht kam, gelang es ihr relativ schnell, die Macht der Militärs, die seit 40 Jahren faktisch die Türkei beherrscht hatten, zu brechen. Und es gelang ihnen, einen gigantischen Wirtschaftsaufschwung hinzulegen, mit einem jährlichen Wachstum von neun bis zehn Prozent. Niemand würde heute daran zweifeln, dass die Türkei eine moderne Demokratie ist, auch wenn aus Ankara manchmal ein merkwürdiges Brummeln kommt. Im Endeffekt, so glaubt Primor, gehe es ja dann doch immer nur um die Wirtschaft. Oder, wie der frühere US-Präsident Bill Clinton einmal einem Konkurrenten im Wahlkampf an den Kopf warf: „It’s the economics, stupid!“ – „Es geht um die Wirtschaft, Idiot!“

 

Kuscheliger Kollisionskurs

All zu lange, so scheint es, darf Ägypten nicht zur Ruhe kommen. Nach den überraschenden Ereignissen Ende Juni wirkte es, als komme das Land jetzt endlich zum Durchatmen. Nachdem Mohammed Mursi als gewählter Präsident bestätigt war, atmeten die meisten Ägypter erst einmal auf. Dass die Militärs ihm per kaltem Staatsstreich die meiste politische Macht genommen hatten, empörte vor allem die Moslembrüder. Liberale und Säkulare waren zwar erbittert über die Kaltschnäutzigkeit des Militärrates und protestierten gegen Beschneidung der Demokratie, aber insgeheim waren die auch froh darüber, dass die Islamisten jetzt nicht durchregieren konnten. Für Mursi andererseits bot das die Gelegenheit, das Land zunächst einmal im Inneren auszusöhnen. Wenigstens was seine Absichtserklärungen betrifft, begann Mursi ja ganz gut: Zwei Vizepräsidenten, eine Frau und ein Kopte, sollten her und Friedensnobelpreisträger El Baradei sollte Premierminister werden.

Und nun kommt also dieser Hammer: Mursi beruft das suspendierte Parlament wieder ein. Die Militärs sind völlig baff, das Verfassungsgericht komplett konsterniert. Die meisten Säkularen und Liberalen heulen auf. Für sie ist Mursis Vorstoß ein Beweis dafür, dass dem ehemaligen Moslembruder eben doch nicht zu trauen sei. Er habe schließlich angekündigt, nicht nur die Gesetze, sondern auch die höchstrichterlichen Urteile zu respektieren. Allerdings hat das Gericht das Parlament gar nicht aufgelöst. Es hat nur festgestellt, dass ein Drittel der Sitze nicht verfassungsgemäß bestetzt worden seien. Das Verfassungsgericht sagte nicht einmal etwas darüber aus, ob nur ein Drittel der Abgeordneten neu gewählt werden muss, oder ob das für das ganze Parlament gilt. Es war aber der Oberste Militärrat, der die Volksvertreter nach Hause geschickt hat.

Der Verdacht liegt nahe, dass Mursi seinen einstigen Mitstreitern die letzte parlamentarische Macht sichern will. Andererseits sieht sein Zeitplan vor, dass es etwa in einem halben Jahr schon wieder Neuwahlen geben könnte. Dass Moslembrüder und Salafisten bei einer neuen Parlamentswahl derzeit bei weitem nicht so gut abschneiden würden, darf mal getrost angenommen werden. Das zeigte sich ja schon bei den Präsidentschaftswahlen.

Was steckt also hinter Mursis Vorstoß? War das wirklich eine Harakiri-Aktion, wie viele meinen? Es gibt wohl zwei Möglichkeiten: Entweder ist Mursi einfach dumm und komplett fremdgesteuert. Ich glaube das nicht. Oder, und dazu tendiere ich eher, er verfolgt einen Plan. Jeder Präsident, der das Land in eine demokratische Zukunft führen will, muss sich früher oder später mit dem Obersten Militärrat anlegen. Dem steht derzeit noch Feldmarschall Mohammed Tantawi vor. Der wird im Oktober 77 und ist in den letzten anderthalb Jahren oft dadurch aufgefallen, dass er auf markige Worte kleinlaute Rückzieher folgen ließ. So gesehen könnte es sinnvoll sein, den Kampf zu führen, solange Tantawi noch da ist. Wer weiß schon, wer ihm nachfolgen könnte.

Dass der Militärrat keine Interesse daran hat, die Situation eskalieren zu lassen, ist schon daran zu ersehen, dass die Abgeordneten heute vom Militär nicht daran gehindert wurden, ins Parlament zu gehen. Derzeit scheint der Kollisionskurs, den Mursi ansteuert, noch ziemlich kuschelig zu sein. Aber fahren muss er ihn. Es ist doch so: Die Militärs haben den Präsidenten weitgehend entmachtet. Zeigt sich Mursi jetzt als schwach, wird er ganz schnell der Rückhalt bei seinen eigenen Anhängern verlieren. Den braucht er aber dringend, wenn das Projekt der Versöhnung mit Liberalen und Säkularen gelingen soll.

Andererseits ist ja auch nicht so viel passiert. Die Abgeordneten hatten sich mittags für eine Viertelstunde getroffen. Aber was geschieht nun, wenn sie Gesetze beschließen? Dann werden die wohl ganz schnell vom Verfassungsgericht wieder kassiert.

Wie es weiter geht? Jetzt ist demnächst erstmal Ramadan, und da geht gar nichts weiter. Der Politikbetrieb steht weitgehend still. Dann soll es möglichst bald eine neue Verfassung geben – und danach Neuwahlen zum Parlament. Das sagt Mohammed Mursi, der damit indirekt ja zwei Dinge zugibt: 1. Er akzeptiert den Spruch des Gerichtes. 2. Er gesteht ein, dass das Parlament wohl tatsächlich nicht verfassungskonform zusammengestellt ist.

Es bleibt spannend in Ägypten. Eigentlich ist es atemberaubend, diesen demokratischen Selbsfindungsprozess zu erleben. Natürlich wirkt manches improvisiert und chaotisch. Aber ich glaube, dass dieses Land noch zu mancher Überraschung fähig ist.

Mursi muss es machen

Also eines muss man der Alt-Herren-Riege des Militärrats lassen. Sie sind immer wieder für eine Überraschung gut. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert ist, hätte es wohl niemanden gewundert, wenn nun auf einmal der ihnen nahestehende Ahmed Shafik zum Präsidenten erklärt worden wäre. Nun hat die Wahlkommission verkündet, dass Mohammed Mursi die Präsidentschaftswahlen mit 51,7 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Von zwei Übeln scheint der Vorsitzende der Moslembrüderpartei „Freiheit und Gerechtigkeit“ wohl das kleinere. Shafik hatte im Wahlkampf angekündigt, dass er innerhalb kürzester Zeit Ruhe und Ordnung wiederherstellen wolle, falls er gewählt würde. Das klang doch eher nach einer Drohung. Mursi dagegen kündigte an, einen koptischen Christen – mit Vollmachten – zum Vizepräsidenten zu machen. Das klingt bei weitem weniger bedrohlich.

Immer deutlicher wird, dass sich das Militär in seiner „Staat-im-Staat-Lösung“ verbarrikadieren will. Seine staatstreichartigen Dekrete deuten genau in diese Richtung. Die Rechte des Präsidenten und des (nicht mehr vorhandenen) Parlamentes werden genau an dieser Stelle beschnitten, an denen die demokratischen Institutionen dem Militär weh tun könnten. Ob es unter diesen Umständen ein großes Vergnügen sein wird, als Präsident Ägypten zu regieren, dürfte fraglich sein. Nun muss es Mursi eben machen.

Viele sagen, dass es eigentlich egal sei, ob Mursi oder Shaffik Präsident wird. Ich glaube das nicht. Nun bin ich kein Fan der Moslembrüder, aber ich glaube, dass die Situation, so wie sie jetzt eingetreten ist, die einzige ist, die dem Land nun wieder eine Zukunftsperspektive gibt. Natürlich kann das Militär im Gesetzgebungsverfahren dem künftigen Präsidenten immer wieder in die Parade fahren. Was das Militär jedoch nicht verhindern kann, ist ein Versuch Mursis, das Land zu vereinen. Von einer Regierung der nationalen Einheit ist ja bereits die Rede. Wenn er nun also Kopten und Säkulare mit in die Verantwortung einbindet und es langfristig wirklich zu einer übergreifenden Versöhnung kommt, dann sieht sich der Militärrat plötzlich einer starken Zivilgesellschaft gegenüber. Wie lange er sich unter diesen Umständen dann noch halten kann, wird sich zeigen.

Immerhin hat der künftige Präsident schon angedeutet, dass er diesen Weg gehen will. Allerdings ist das Misstrauen auf der anderen Seite noch groß. Das hat seinen Grund. Die Moslembrüder, die unter dem Mubarakregime am meisten gelitten haben, haben sich erst sehr spät bei den Demonstranten untergehakt und später auch schnell ihre neugewonnene Macht leidlich ausgenutzt. Es hat auch immer wieder Ankündigungen gegeben, die am Ende nicht eingehalten wurden. So wollten die Moslembrüder ursprünglich auf einen eigenen Kandidaten verzichten.

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass Ägyptens neuer Präsident gar nicht so unbeschwert regieren kann. Auf diese Weise hat er vielleicht mehr Zeit für ein großes Versöhnungswerk.

Und dann noch eines. In Ägypten hört man nicht unbedingt gerne, wenn es in den USA irgendetwas angeblich Vorbildliches gibt. Aber eines hat mir bei den Staaten immer sehr gut gefallen. Es ist nach Präsidentschaftswahlen – so schlimm auch die Schlammschlacht gewesen sein mag – ein guter Brauch, dass der Verlierer seine Anhänger auffordert, sich hinter den neuen Präsidenten zu stellen. Wäre vielleicht ganz gut, wenn Ahmed Shaffik eine ähnliche Geste bereit hätte.