Armee in der Falle

Viele durchaus sehr demokratische gesinnte Menschen rätseln darüber, wie ein amerikanischer Präsident über die Vorgänge in Ägypten besorgt sein kann, oder warum ein deutscher Außenminister den Machtwechsel gar als Rückschlag für die Demokratie wertet. Entweder haben beide von nichts eine Ahnung, oder sie sind schlecht beraten – oder sie fürchten sich vor etwas. Tatsächlich hat sich in Ägypten etwas getan, was vor allem den amerikanischen Präsidenten in große Sorgen versetzen muss. Die ägyptische Armee, die im Moment als der große Machtfaktor dasteht, die einen gewählten Präsidenten aus dem Amt gejagt hat und zudem einen Staat im Staat bildet, ist ja gleichzeitig auch einer der wichtigsten Verbündeten der USA in dieser Region. Immerhin sponsorn die Amerikaner das ägyptische Militär mit 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Und diese Armee hat vorgestern bei näherem Hinschauen eigentlich eine ganz empfindliche Niederlage einstecken müssen. Im Moment wird das alles durch Jubelszenen auf dem Tahrir überdeckt. Aber Barak Obama muss ich in der Tat sorgen um die ägyptische Armee machen. Diese Revolution 2.0 könnte sie nämlich nachhaltiger ändern, als das viele im Moment glauben mögen.

Schauen wir uns das Militär mal etwas genauer an. Die Führungsspitze ist weder demokratisch noch besonders freiheitlich orientiert. In den Militärakademien kursieren unter den künftigen Offizieren das Landes solch literarische Blüten wie zum Beipiel „Mein Kampf“. Durch übermäßig große Lust an der Kriegsführung ist Ägyptens Armee seit 40 Jahren – Gott sei Dank – auch nicht mehr aufgefallen. Dafür haben die Militärs ein Wirtschafts- und Verwaltungsimperium aufgebaut, das seines gleichen sucht. Panzer und Raketen sind weitgehend Nebensache und dienen eher als Spielzeug. Längst die die Armee ein sich selbst erhaltendes System geworden – steuerfrei.  Man kann nicht einmal sagen, dass die Armee das Land systematisch ausblutet. Sie schafft ja auch Arbeitsplätze – sehr viele sogar. Staat und Armee sind eher in einer symbiotischen Struktur miteinander verbunden. Und genau das macht sie nun angreifbar.

Hat der Jungenfrauentester Abdel Fatah al Sissi tatsächlich in einer Anwandlung von Demokratiebesoffenheit Tamarod die Hand gereicht? Hat er sich nach einem Damaskuserlebnis vom Saulus zum Paulus gewandelt, zum großen Freiheitskämpfer? Möglich, aber kaum anzunehmen. Nein, der oberste Militär hat sich erpressen lassen – vom Volk. So einfach sieht es aus. Seit etwa einem halben Jahr wurden die Stimmen immer lauter, das Militär solle eingreifen. Es hatte seit Monaten immer wieder mal sehr wachsweiche Ankündigungen der Armee gegeben, vielleicht mal irgend wann etwas zu tun, wenn es mit der Wirtschaft weiter bergab gehe. Das wurde zurecht als der kolossale Unwille gewertet, in die Politik aktiv einzugreifen. Doch auf einmal ging alles sehr schnell. Als Tamarod plötzlich Millionen auf die Straße brachte und am vergangenen Sonntag das Ultimatum vom Tahrir kam, reagierten die Militärs. Kaum hatten die Demonstranten mit bedingungslosem zivilen Ungehorsam gedroht, kam auch schon ein Ultimatum der Armee. Warum wohl? Sie hatten das Wort vom „bedingungslosen Ungehorsam“ völlig richtig mit „Generalstreik“ übersetzt. Doch wem hätte denn ein Generalstreik am meisten geschadet? Doch denjenigen, die am meisten Menschen beschäftigen. Um es platt auszudrücken: Die Militärs fürchteten die Pleite ihrer eh schon ausgesprochen angeschlagenen Unternehmen.

Doch warum war das Eingreifen des Militärs nun langfristig eine Niederlage? Erstmals in der jüngeren Geschichte hat sich das Militär vom Volk zu etwas zwingen lassen. Es hat eine offene Flanke gezeigt und offenbart, wo es verwundbar ist: Nämlich genau dort, wo es verdient. Die Androhung von Streiks werden die Militärs nicht weniger beunruhigen, als die Ankündigung Obamas die jährliche Militärhilfe zu überdenken. Wenn das dem ägyptischen Volk klar wird, dann kann das der erste Schritt sein, um die alt her gebrachten Strukturen aufzubrechen.

Niemand kann im ernst erwarten, dass sich das Militär von heute auf morgen von seine Reiseunternehmen und Nudelfabriken trennt. Aber das Volk kann sehr wohl vom Militär erwarten, dass es in einer großen wirtschaftlichen Krise endlich einmal damit anfängt, Steuern zu bezahlen. Es kann auch darauf pochen, dass es irgendwann seine Finanzen offenlegt. Wie es dann weiter geht? Man wird sehen.

Aber auch das Militär hat ja seine Möglichkeiten. Es steht ja unter dem Druck, der Welt, vor allem der westlichen, beweisen zu müssen, dass das, was da in Ägypten passierte, auch rechtens ist und das geht nur über einen Erfolg der Regierung – einer zivilen Regierung der nationalen Einheit. Die Erfahrungen mit der Opposition in der Vergangenheit sind leider wenig ermutigend. Da hatte sich zum Beispiel der ägyptische Block mit 15 Parteien, Verbänden und Gewerkschaften selbst so zerlegt, dass nur noch drei Parteien übrig blieben. Nun müssen sich die einstigen Oppsitionskräfte zusammenraufen. Dass sie es schaffen wäre eher unwahrscheinlich, stünde nicht das Militär im Hintergrund, das sie möglicherweise dazu zwingt.

Wie immer man das Kind vom 3. Juli nennen will, zweite Revolution, Putsch oder Staatsstreich – eines ist jedenfalls klar: Die Armee ist dem Volk in die Falle gegangen – nicht umgekehrt.

Dann jagen wir sie eben zum Teufel

Es ist ja manchmal so nach einem großen Fest, daß man mit einem gehörigen Kater erwacht. Wenn es am Tag nach den Erfolg der „Rebellion“, wie Tamarod übersetzt heißt, zu einer Art Kater kam, dann sorgten dafür ausgerechnet US-Präsident Barak Obama und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Beide äußerte sie ihre Sorgen und mahnten das Militär, die Macht so schnell wie möglich wieder in zivile Hände zu legen. Zumindest bei Obama erscheint mir die Mahnung als etwas heuchlerisch, denn es ist kaum anzunehmen, dass Abdel Fatah el Sissi auch nur einen Schritt gemacht hat, ohne sich zuvor mit dem Pentagon abzusprechen.

Die gesamte Legitimationdebatte, die schon gestern losgetreten wurde, als Mursi noch im Amt war, erscheint mir persönlich völlig verfehlt. Ja, es stimmt, dass da ein demokratisch gewählter Präsident mit Hilfe des Militärs aus dem Amt gekippt wurde. Ja, und? Vielleicht hilft ja mal ein Blick zurück, ein Blick auf das Ägypten vor ein oder anderthalb oder zwei Jahren. Natürlich hatte niemand die Legitimitätsfrage gestellt, als das Militär Hosni Mubarak stürzte und als Mursi Knall auf Fall Mohamed Tantawi entließ, war das auch nichts weniger als ein Staatsstreich. Aber beide waren nicht demokratisch legitimiert. Allerdings war es doch Mohamed Mursi, der bei seiner Amtsübernahme die Ägypter sogar aufforderte wieder auf die Straße zu gehen, wenn sie mit seiner Amtsführung unzufrieden sind.  Genau das haben sie doch getan. Dafür haben seine Brüder den Demonstranten den Heiligen Krieg erklärt! Was im übrigen, nach der von den Muslimbrüdern durchgepeitschen Verfassung, den Tatbestand des Hochverrats darstellt. Mursi hat sie nicht einmal zur Rechenschaft gezogen.

Mit ihrer Revolution vom Frühjahr 2011 sind die Ägypter auf den Geschmack der Demokratie gekommen. Allerdings ist das keine Demokratie, die wie soutierte Wachtelbrüstchen mit lauwarmer Brunnenkresse daher kommt, sondern wie ein derber über dem Spieß gebratener Hammelbraten, aus dem man sich mit der Hand ein Stück rausreißt. Die ägyptische Demokratie ist (noch) archaisch und – ja vielleicht auch anarchisch (nicht anarchistisch!!) – aber es ist eben doch eine Demokratie.

Als ich vor anderthalb Jahren für „Koulou Tamam“ recherchiert habe, hatte ich ein langes Interview mit Housam, einem Koch aus Hurghada, der aus Souhag im Niltal stammt. Daran mußte ich gestern wieder denken. Soviele Experten haben in den letzten zwei Jahren so schlaue Dinge gesagt – und sich so gründlich geirrt. Ich selbst nehme mich da weiß Gott nicht aus. Aber heute kommt mir das, was Housam damals im Januar 2012 zu mir sagte doch sehr prophetisch vor:

Chefkoch Housam Foto: psk

Chefkoch Housam
Foto: psk

„Wir haben keine Angst vor der Zukunft. Warum auch? Egal, wer jetzt an die Regierung kommt, ob Islamisten, Liberale oder sonst wer, sie müssen die Situation für die Menschen verbessern. Das heißt, sie müssen genug zu essen und ein vernünftiges Dach über dem Kopf haben. Wenn sie das nicht schaffen, stehen eben wieder Millionen auf dem Tahrir und verjagen sie. Dann kommen eben die nächsten dran.“ (Koulou Tamam Ägypten, Carpathia-Verlag Berlin, 2012)

Nun ist Housam kein verkopfter Politiker, kein spitzfindiger Analytiker, sondern ein einfacher, sehr frommer aber auch durchaus reflektierter Mann aus dem einfachen Volk. Das, was er vor anderthalb Jahren zu mir sagte, reicht doch völlig aus als Legitimation für das, was gestern passiert ist. Den Ägyptern geht es heute schlechter als zu Zeiten Mubaraks. Da hätten sie ihn auch gleich behalten können. Nein – die überwiegende Zahl des Volkes sah sich an den Rand der Existenz gedrückt und hat meines Erachtens und völlig zu Recht in Notwehr gehandelt – und das Militär hat – ebenfalls völlig zu Recht – das Volk darin unterstützt. Dass das Militär nur an zwei Dingen interessiert ist, an der Wahrung seiner Privilegien und denn 1,4 Milliarden jährlich aus den USA… geschenkt.

Man muss dem Militär aber eines zu Gute halten. es hat aus dem zweieinhalbjährigen Desaster gelernt. Wenn die Pressekonferenz gestern ein Zeichen für die Zukunft war, dann geht Ägypten goldenen Zeiten entgegen. Nach Sissi sprach der Sheik der Al Ahsar Universiätet und nahm damit den Moslembrüdern die Legitimität, im Namen des Islam zu sprechen, sprach El Baradei für die Säkularen, und stand als Symbol, dass die zerstrittene Opposition nun mit einer Stimme sprechen will, sprach Papst Tawadross II., das Oberhaupt der koptischen Christen und brachte damit in Erinnerung, dass die christliche Minderheit ebenfalls eine wichtige Rolle in Ägypten spielen sollte, sprach ein Vertreter der Jugend, die ja nicht ganz zu unrecht glaubte, dass ihr die erste Revolution gestohlen worden sei – und dann die größte Überraschung, sprach ein Vertreter der Salafisten. Und das muss für die Moslembrüder der niederschmetterndste Anblick an jenem Abend gewesen sein. Selbst die vermeintlich noch viel sittenstrengeren Glaubensbrüder lassen sich in ein Bündnis der nationalen Einheit einbinden.

Dieses Bündnis wurde ja nicht gestern Abend vor den Fernsehkameras geschmiedet, sondern schon vermutlich zwei Tage zuvor. Die Muslimbrüder waren dazu eingeladen. Sie waren die einzige gesellschaftliche Gruppe, die dieser Einladung nicht gefolgt sind. Man kann es also auch so sehen, dass sich der Präsident von seinem Volk abgewendet hat. Dann muss er sich nicht wundern, wenn er davon gejagt wird.

Ich habe an dieser Stelle schon das ein oder andere Mal die Opposition kritisiert, weil sie lieber weggelaufen ist und Demonstrationen organisiert hat, statt auf dem parlamentarischem Weg zu kämpfen. Dieser Meinung bin ich nach wie vor. Aber auch das kann die gestrigen Ereignisse nicht diskreditieren. Das ganze war nach meiner Ansicht aus demokratischer Hinsicht völlig okay.

Wenn das der amerikanische Präsident ausgerechnet am 150. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg anders sieht, ist das schon sehr traurig. Sein Idol Abraham Lincoln hat sogar einen vierjährigen Bürgerkrieg – der dank der Umsicht der Militärs den Ägypten jetzt hoffentlich erspart bleibt – geführt, um die Demokratie zu retten. Vier Monate nach der Schlacht weihte Lincoln den Soldatenfriedhof in Gettysburg ein. Dabei sprach der nur zweieinhalb Minuten lang und seine Rede umfaßte gerade mal 200 Worte. Die letzten Worte lauteten: „Auf dass diese Nation, unter Gott, eine Wiedergeburt der Freiheit erleben – und auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge.“ Mabruk ya Masr.

 

Sissi soll’s richten?

Für mich gehört zu den erschütterndsten Folgen der Revolution in Ägypten, dass es nun ausgewiesene Demokraten sind, die laut einen Militärputsch herbeirufen. Wie verzweifelt müssen die einstigen Revolutionäre sein, wenn sie Freiheit und Demokratie auf diese Art und Weise beerdigen? Allerdings darf der europäische Beobachter dabei eines auch nicht außer acht lassen: Das Militär genießt in Ägypten ein überaus hohes Ansehen. Im Gegensatz übrigens zu Polizei und Sicherheitskräften. Daran änderte sich auch nichts, als der Oberste Militärrat vor einem Jahr dann doch recht kläglich an der stets ungeliebten Regierungsverantwortung scheiterte.

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit.                 Foto: psk

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit. Foto: psk

Vor einem Jahr dann ereignete sich Erstaunliches. Mohammed Mursi stürzte den Militärrat und seinen Chef, Feldmarschall Tantawi. Ob das ein genialer Schachzugs Mursis war, oder doch nur ein abgekartetes Spiel, darüber wird heute noch trefflich gestritten. Allerdings gibt es aus der heutigen Sicht nur noch ganz wenige, die Mursi einen solchen Geniestreich zutrauen. Entweder war er damals gut beraten, oder Tantawis Rausschmiss war das berühmte Korn, das auch mal ein blindes Huhn findet.

Sein Nachfolger heißt Sissi – ja, er heißt so und nun keine Witze mit Namen bitte – und der hat sich bislang stets zurückgehalten. Nun ist er ja nicht gerade ein Mann der Opposition. Aber seine Äußerungen in der Vergangenheit klangen nachgerade demokratietragend. Ein Eingreifen der Armee würde Ägypten in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. So war es im Handelsblatt zu lesen. Mann kann es aber auch so interpretieren, dass er meinte: „Hände weg von den Moslembrüdern.“ Die haben das allerdings schon alleine geschafft. Wahrscheinlich gelang es in der bisherigen Weltgeschichte nur den Roten Khmern, ihr Land nach der Machtübernahme noch schneller herunterzuwirtschaften.

Inzwischen klingt Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi auch ein wenig anders. Er warnte nun, dass das Militär notfalls doch eingreifen werde, wenn Ägypten, in einem „dunklen Tunnel“ zu versinken drohe, berichtet der Zürcher Tagesanzeiger. Vorausgegangen waren Drohungen von Mursi-Anhängern, Demonstranten am 30. Juni bei der geplanten Großdemonstration totzuschlagen. Morddrohungen gegen die Opposition aus dem islamistischen Lager sind inzwischen freilich an der Tagesordnung.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich das Militär erstmals so eindeutig positioniert hat. Es zeigt, dass die Moslembrüder ganz rasant auch an Ansehen verlieren. Und es zeigt weiter, dass es das Militär seinerseits mit der Angst zu tun bekommt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das die große wirtschaftliche Macht: 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Militärunternehmen erwirtschaftet. So, wie die Wirtschaft im letzten Jahr zusammenkrachte, geht es der Armee inzwischen richtig ans Eingemachte. Zum anderen fürchten die Militärs auch um ihre Popularität im Volk. Es ist ja nicht so, dass von den rund 47 Prozent, die die Brüder gewählt hatten, die meisten Mord und Totschlag befürworten. Im Gegenteil.

Und dann gibt’s da noch eine andere Meldung, die al-Sissi wohl bestätigen dürfte. Südlich von Kairo wurden jetzt erstmals vier Schiiten von einem 3000-köpfigen Mob umgebracht. Es waren mal wieder Salafisten-Prediger, die offen zu Gewalt an etwa 40 Schiiten aufgerufen hatten. Im Parlament machen die Moslembrüder, aller heiligen Eide zum Trotz, seit einem Jahr gemeinsame Sache mit der Partei „El Nur“, dem politischen Flügel der Salafisten. Die haben nun nicht mehr nur christliche Kopten, sondern auch andersgläubige Moslems im Visier. Das könnte die Geduld der Mehrheit der Ägypter so langsam überstrapazieren

Ob der 30. Juni, wie viele Oppositionelle hoffen, der Auftakt zur „Zweiten Revolution“ sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Aber die Anzeichen auf einen Zerfall der Mursi-Ära werden immer deutlicher. Das sehen offensichlich auch andere so. Vor knapp einer Woche beklagte ich noch, wie rasant das Ägyptische Pfund auseinander bricht. Da bekam man für einen Euro neun Pfund und 36 Piaster. Heute sind es neun Pfund und 18 Piaster. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen können.

Ein Jahr danach

Vor genau einem Jahr und einem Tag ist an dieser Stelle der erste Beitrag im Produktionsblog „Koulou tamam, Ägypten?“ erschienen. Zugegeben: Ein Produktionsblog ist diese Seite schon lange nicht mehr. Das Buch ist im Mai erschienen, hat seine Leser gefunden und dem einen oder anderen vielleicht auch Zusammenhänge aufzeigen können, die er zu zuvor noch nicht gesehen hat.

Vier Mal war ich in diesem Jahr in Ägypten – und erlebte, wohl wie die meisten, eine schlimme Achterbahnfahrt. Hoffnung und Optimismus wechselten manchmal täglich mit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem muss ich sagen, dass meine Grundstimmung am Ende dann eher ins Positive gerichtet war. Da ich mich für das Buch auch sehr intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandergesetzt habe, ist mir aufgefallen, dass sich Ägypten zwar häufiger in völlig hoffnungslosen Situationen befand, aber sich irgendwie immer daraus befreien konnte. Zum Beispiel die Suezkrise oder die katastrophale Niederlage nach dem Sechstagekrieg.

Getreide und Energie werden in Ägypten knapp und teuer. Hier die etwa einen Kilometer Lange Schlange vor einer Tankstelle in Hurghada. Foto: psk

Dieses Mal geht mir so langsam der Glaube daran verloren. Einerseits sind da sie Nachrichten, die direkt aus Ägypten kommen. Nicht über die normalen Kanäle, sondern über Blogs, wie etwa Anderswo: Leben in Hurghada. Was da zu lesen ist, ist zutiefst erschütternd und verstörend. Andererseits weiß nun jeder, der das Land kennt, dass das Schlimmste ja erst noch im Frühjahr kommen wird. Wenn es wirklich zu explodierenden Getreidepreisen auf dem Weltmarkt kommt, wenn der IWF wirklich auf den Abbau der Lebensmittel- und Energiepreise besteht, was dann? Wenn das alles stimmt, dann sollen sich die Preise für Grundnahrungsmittel vervierfachen – und das in einem Land, in dem der größte Teil der Bevölkerung schon jetzt nicht mehr genügend Geld zum Leben hat.

Die Moslembrüder drängen mit aller Gewalt an die ganze Macht. Gut. Vergessen wir mal für einen Augenblick solche Kleinigkeiten wie Freiheit oder Demokratie. Sagte nicht schon Bert Brecht: Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Eben. Die für mich vielleicht schockierndste Nachricht in diesem Jahr war nicht Mursis Griff zur Allmacht, es waren nicht die immer wieder schlimmen Bilder vom Tahrir oder neuerdings von vor dem Präsidentenpalast. Nicht einmal die grauenhaften Ereignisse im Stadion von Port Said am 1. Februar haben mich im Innersten so beunruhigt, wie die aktuellen Bevölkerungszahlen. Inzwischen gibt es auf der Welt über 90 Millionen Ägypter. Bislang war man von 80 Millionen ausgegangen. Als ich zum ersten Mal ins Land kam, und das ist nun über 20 Jahre her, waren es noch 60 Millionen. Die Bevölkerung wächst also um mehr als eine Million im Jahr. Man stelle ich das mal vor: In Deutschland würde jedes Jahr irgendwo in der Republik plötzlich eine Stadt in der Größe Köln auftauchen – einfach so.

Ägypten war einst die Kornkammer des Mittelmeerraums. Inzwischen reichen die Anbauflächen bei weitem nicht mehr, um die eigene Bevölkerung zu versorgen. Ägypten muss also Getreide einführen – und das auch noch sobventionieren, damit sich die Menschen überhaupt ihr Brot leisten können. Und nun sind da also die Moslembrüder. Dass sie fromm sind und zu islamischen Werten zurück wollen und die auch der gesamten Bevölkerung überstülpen wollen, lassen wir mal beiseite. Jeder darf nach seiner Facon selig werden. Aber leider gehören zu den islamischen Werten auch zwangsläufig große Familien (warum eigentlich?). Zu den scheinbaren islamischen Werten gehört auch, dass ein Mann möglichst viele Söhne haben sollte und die Töchter nun nicht ganz soviel zählen. Daran werden die Moslembrüder natürlich nicht rütteln.  Sogar Anwar al Sadat, der selbst ein sehr frommer Moslem war, hatte ein Programm zur Familienplanung auf den Weg gebracht und der Erfolg war ziemlich genau null – wenn man die Bevölkerungsentwicklung betrachtet.

Ist solch ein Programm von den Brüdern zu erwarten? Ich versuch mir gerade vorzustellen, wie die Köpfe der Bruderschaft (die ja angeblich nicht dumm sind) dem Mob, den sie auf die Straße geschickt haben, ganz vernüftig die Vorzüge einer Ein-Kind-Familie darlegen. Nein, natürlich sind die Brüder darauf angewiesen, ihre Anhänger mit traditionellen Ansichten bei Laune zu halten. Und genau hier versündigen sich die Moslembrüder an ihrem Land. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Macht, die Unterdrückung der Opposition sind das eine, aber ein ganzes Volk sehenden Auges dem Hungerelend preiszugeben ist noch einmal etwas ganz anderes. Natürlich spekulieren sie in Ägypten auf die Hilfe ihrer arabischen Brüder. Sie wissen ja genau, dass reiche Scheichs aus den Emiraten, Kuweit und Saudi Arabien ihr Geld längst anderweitig angelegt haben: Zum Beispiel in riesige Weizenfelder in Äthiopien(!). Die Ernte landet nicht etwa auf dem Weltmarkt, sondern in riesigen Getreidesilos als wunderbares Spekulationsobjekt für Situationen, wie sie etwa im Frühjahr weltweit drohen.

Die arabischen Brüder werden sich ihre Hilfe aber sehr teuer bezahlen lassen. Und wenn in der Historie auf eines Verlass war, dann auf die Tatsache, dass es unter den arabischen Völkern einfach mal gar keine Solidarität gibt. Schon seit der Antike haben sie sich gegenseitig stets übers Ohr gehauen und selbst der Koran ist voll von solchen Geschichten. Es könnte also gut sein, dass sich die Brüder völlig verspekulieren, wenn sie auf nachbarschaftliche Solidarität setzen.

Ob sich die Opposition viel besser angestellt hätte, wag ich jetzt mal zu bestreiten. Untereinander waren sie seit Beginn der Revolution schon wie Hund und Katz‘. Präsident Mursi hat sie jetzt wieder ein wenig zueinander gebracht. Trotzdem: Eine Werbung für die Demokratie ist das Gehabe der „demokratischen“ Opposition auch nicht. Sie haben es den Brüdern im letzten Jahr schon sehr leicht gemacht. Ich glaube ich habe es an dieser Stelle auch schon mal so geschrieben: Es ist leichter eine Demonstration zu organisieren als eine parlamentarische Mehrheit.

Wenn das Jahr zu Ende geht, haben wahrscheinlich alle Beteiligten gelernt, dass Demokratie eine verflixt schwierige Sache ist, die nur dann gedeihen kann, wenn sich alle nicht nur an Spielregeln, sondern auch an gute Sitten halten. Für die Mehrheit heißt das, die Minderheit nicht mit aller Gewalt zu unterdrücken, und für die Minderheit bedeutet das, nicht einfach wegzurennen, nur weil man keine Mehrheit hat.

Es war kein leichtes Jahr für Ägypten. Und das kommende wird noch schwieriger. Ich gebe zu, dass mir mein Optimismus jetzt ein wenig abhanden gekommen ist. Aber mir bleibt der Trost, dass sich in diesem Land alles ganz schnell wieder ändern kann. Im letzten Januar sagte mir eine gute Freundin, dass sie fürchte, bis spätestens Juni sei hier alles vorbei und sie müsse wieder nach Deutschland. Es kam am Ende alles ganz anders.

Religion und Demokratie

Beim Getöse um Mursi, seine Dekrete, die Zerschlagung der Gewaltenteilung und das Durchpeitschen der neuen ägyptischen Verfassung gerät ein Gedanke irgendwie ins Abseits, obwohl das Wort jeder im Munde führt. Es gab auch hier bei uns in Berlin in letzter Zeit immer wieder hitzige Diskussionen über die Situation in Ägypten, was nicht zuletzt daran liegt, dass eine größere Gruppe aus meinem Bekanntenkreis für Februar die nächste Reise plant.

Normalerweise höre ich gar nicht hin, wenn im Fernsehen Berichte über Islamisten-Demos kommen. Ihr Geschrei und ihre Parolen nerven mich, und es kommt normalerweise nichts Gescheites dabei raus. Auf der Demo auf dem Nahada-Platz meinte einer der Pro-Mursi-Demonstranten: „Ich weiß ja gar nicht, was die (von der Opposition) wollen?! Sie haben doch jede Wahl verloren.“ Verdammt ja – er hat ja recht. Jedenfalls bin ich da ziemlich ins Grübeln gekommen. Nun kann man ja einwenden, dass sich die Demonstrationen gegen Mursis undemokratische Dekrete wenden. Das ist soweit richtig. Aber offenbar ist der Mehrheit der Ägypter völlig egal, was Mursi mit der Gewaltenteilung anstellt.

Vor einem knappen Jahr, nach der Bekanntgabe der Ergebnisse der Parlamentswahlen, hat mir der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Mazen Okasha eine interessante Rechnung aufgemacht. Er sprach davon, dass sich 80 Prozent der Wähler von religiösen Motiven hätten leiten lassen. Ich korrigierte ihn und meinte, es seien doch nur 70 Prozent Islamisten im Parlament. Er lächelte und sagte, ich dürfe die Rechnung nicht ohne die Kopten machen. Die würden auch noch zehn Prozent der Abgeordneten stellen.

Das bedeutet, dass in diesem Land nur 20 Prozent der Wähler aus politischen, 80 Prozent aber aus religiösen Motiven abgestimmt haben. Nun müssen Religion und Demokratie nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Auch die katholische Kirche ist nicht gerade für ihre ausgeprägte basisdemokratische Toleranz bekannt. Wer religiös wählt, dem geht es nicht in erster Linie um persönliche Grundfreiheiten, um Gleichberechtigung, Fairness oder allgemeine Teilhabe. Er ist eher interessiert an Grundwerten, an Familie, an Sicherheit, klaren Strukturen und Hierarchien. Je nachdem kann natürlich genau jener Wunsch im völligen Gegensatz zum Beispiel zu persönlichen Freiheiten, zur Pressefreiheit oder zur Meinungsfreiheit stehen. Aber wenn es die Mehrheit in einer Demokratie so will? Was dann? Zum Sturz der Regierung aufrufen? Das ist in so ziemlich jedem Land der Welt – je nach Umsetzungsgrad – eine Straftat. Die einzige legale Möglichkeit einer Opposition innerhalb einer Demokratie ist, diese Regierung abzuwählen. Wenn einer Opposition das nicht gelingt, dann muss sie sich entweder fügen oder ins Exil gehen.

Wenn nur 20 oder 30 Prozent der Ägypter wirklich einen echten demokratischen Staat anstreben, müssten sie dann nicht mit gutem Beispiel vorangehen und sagen: „Ja, wir akzeptieren dieses Votum und arbeiten daran, dass das nächste anders aussieht“? Stattdessen werden Vergleiche mit Mubarak angestellt. Was war noch gleich der Unterschied zwischen Mubarak und Mursi? Nein, auch eine Demokratie ist eine Diktatur, nämlich die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit. Nur in sehr weit entwickelten demokratischen Gesellschaften findet man so etwas wie Minderheitenschutz.

Wie wollen die „Demokraten“ in Ägypten andere von der Richtigkeit ihres Weges überzeugen, wenn sie ihn selbst nicht einhalten? Was wird nun aus der Verfassung? Angenommen die Abstimmung findet am 15. Dezember statt. Offensichtlich steht die Richterschaft nicht so einhellig hinter dem Wahlboykott wie der Richter-Club sagt. Was, wenn 70 Prozent der Ägypter sagen: „Ja, wir finden es gut, in einem Staat zu leben, der auf Koran und Scharia fußt, denn die Religion gibt uns Sicherheit, Zuversicht und Vertrauen?“ Ja, liebe Demokraten, was dann?

Eine gute Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Minderheiten schützt und einen möglichst breiten Konsens in den wichtigsten gesellschaftlichen Fragen erzielen will. In einer schlechten Demokratie spielt die Mehrheit mit den Muskeln und unterdrückt die Minderheit wo es nur geht. Aber deshalb bleibt es eben trotzdem eine Demokratie. Und da setzt sich eben nicht immer das Beste durch.

Fast ein Jahr habe ich mich gegen den Bau von Stuttgart 21 engagiert. Ich bin auf Demos gegangen, habe Sticker verteilt und kaum eine Minute der Schlichtung verpasst. Am Ende kam es zu der berühmten Volksabstimmung mit einer knappen Mehrheit für den Bahnhof. Natürlich wusste ich, dass Stuttgart 21 Blödsinn ist. Aber natürlich musste ich auch die Volksabstimmung akzeptieren. Und im Zweifel ist mir die Demokratie dann doch wertvoller als ein dusseliger Bahnhof. Inzwischen hat sich übrigens herausgestellt, dass die Kritiker mit fast allen Einwänden Recht hatten; das Ding wird eine Milliarde teurer, und keiner will’s gewesen sein. Hallo! Auch das ist Demokratie.

Ich habe vor einigen Monaten geschrieben, Warum Ägypten kein Islamistischer Gottesstaat wird“. Davon bin ich heute noch überzeugt. Aber es kann sein, dass das Land – von Staats wegen – frommer wird als heute. Und zwar nicht weil es Mursi oder die Moslembrüder so wollen, sondern weil es dafür vielleicht eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt. Natürlich ist das dramatisch. Ein Beispiel: Wenn heute in der Bundesrepublik über die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft abgestimmt würde, dann würde es wahrscheinlich zu einer satten Mehrheit für diesen Entwurf kommen. Auch in Ägypten würde es bei einer solchen Abstimmung wohl ein sehr klares Votum geben – nämlich für die Steinigung.

Den demokratischen Kräften Ägyptens wird nichts anderes übrig bleiben: Statt hysterisch und lautstark Rechte einzufordern, müssen sie anfangen, das Land umzukrempeln, sich Mehrheiten schaffen, Überzeugungsarbeit leisten und klar machen, dass die Menschen unter ihrer Regierung deutlich besser leben würden, als unter der Führung von Islamisten. Das ist ein langer und steiniger Weg, der nicht einmal einen Erfolg garantiert. Aber für Demokraten, für wahre Demokraten, ist es der einzig ehrliche und gangbare.

Orientalische Achterbahn

Hoffentlich wohnt dem grauenhaften Unfall vom Sonntag nicht eine schlimme Symbolik inne. Die beiden Minibusse krachten, soweit ich gehört habe,  an der Abzweigung nach Soma Bay zusammen, also ausgerechnet dort, wo Außenminister Guido Westerwelle normalerweise seinen Winterurlaub verbringt – und der musste am selben Tag wegen dieses Unfalls einen Krisenstab bilden. Angesichts der Situation im Land ist die Metaphorik schon ein wenig gespenstisch.

Mörderische Einöde: Einige Kilometer nördlich von dieser Stelle ereignete sich auf dieser Straße der grauenhafte Unfall mit fünf Toten. Foto: psk

Die Straße, auf der der Unfall passierte, kenne ich ganz gut, weil ich im Sommer dort ein paar Mal unterwegs war. Die Küstenstraße hat ja teilweise schon etwas von einer Orientalischen Achterbahn. Es geht auf und ab, und Nervenkitzel ist garantiert. Die Busse sind rasend schnell unterwegs, auch wenn nicht so ganz klar ist, was da hinter der nächsten Kuppe oder Kurve jetzt so kommt. Theoretisch sollte da eigentlich gar nichts kommen, denn genau genommen handelt es sich bei der Küstenstraße nicht um eine, sondern um zwei Einbahnstraßen. Im Grunde ist es ja eine Autobahn, nur dass die beiden Fahrbahnen bisweilen durch einen kilometerbreiten Mittelstreifen getrennt sind. Das ist insgesamt eine sinnvolle Einrichtung, denn dort, wo die Fahrstreifen so weit von einander getrennt sind, gibt es nicht mehr die entsetzlichen Frontalzusammenstöße, für die Ägypten berühmt und berüchtigt war.

In fast jedem Artikel war nun wieder zu lesen, dass die ägyptischen Straßen zu den gefährlichsten der Welt gehören. Über die Fahrweise der Männer hinterm Steuer muss man nun wirklich kein Wort mehr verlieren. Andererseits stimmt es auch, dass in den vergangenen Jahren ein unglaublicher baulicher Aufwand getrieben wurde, um die Verkehrssicherheit zu verbessern – gerade in der Wüste. Hunderte von Kilometern geradeaus durch eine grandiose Einöde machen einen Fahrer jetzt auch nicht gerade aufmerksamer. Am Unfallort wird dieser Aufwand sehr deutlich. Wer von Hurghada kommt, kann nicht einfach links nach Soma Bay abbiegen. Bis vor einiger Zeit war das noch möglich. Inzwischen muss der Fahrer fast einen Kilometer weiter in Richtung Safaga fahren, ehe er auf die Gegenspur wechseln und zurück fahren kann. Auf Google-Maps ist noch sehr gut zu erkennen, wie die Verkehrssituation vorher aussah. Da gab es tatsächlich eine Linksabbiegerspur, und wer nach Soma Bay wollte, musste die Gegenfahrbahn kreuzen! Bei Gegenverkehr, der oft mit über 100 km/h unterwegs war.

Ich weiß nicht, wie sich der Unfall tatsächlich abgespielt hat, aber ich habe eine Vermutung. Da es so aussieht, als sei der eine Minibus seitlich in den anderen gekracht, könnte wohl ein aus Soma Bay kommender Bus bei der Auffahrt zur Küstenstraße den anderen Bus buchstäblich abgeschossen haben. Das ist aber, wie gesagt, nur eine Vermutung. Wenn es wirklich so war, dann nützen natürlich alle baulichen Maßnahmen nichts.

Es ist ja nicht so, dass in dem Land Probleme nicht erkannt werden. Es ist auch nicht so, dass nicht versucht würde, bei Problemen Abhilfe zu schaffen. Aber was hilft das alles, wenn sich die Mentalität nicht ändert? Da kann ein Vollidiot im Hurghada mit seinem Taxi am Hadaba mit Vollgas aus der Kurve fliegen und direkt in einem Café landen – seine Kollegen fahren an der Cafè-Ruine im gleichen mörderischen Tempo vorbei. Sie wissen ganz genau, dass sie genau so aus der Kurve fliegen können. Es schert sie aber nicht. Allah wird’s schon richten.

Und damit kommen ich zur jetzigen Situation. Es scheint mir so, dass ich in meiner Einschätzung von Präsident Mursi dann doch falsch lag. Das allerdings ändert ja nichts an der Analyse der Situation und an den Problemen, vor denen das Land steht. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass möglichst schnell strukturelle Entscheidungen getroffen werden müssen (Lebensmittelversorgung, Energie, Infrastruktur). Und es lässt sich auch schlecht wegdiskutieren, dass Mursi der einzige gewählte Präsident ist. Ergo muss er die Entscheidungen treffen. Aber dieser Machtpoker geht dann doch zu weit. Vor allem wird er dem Land schaden. Eines habe ich allerdings auch immer gesagt: Mursis wichtigste Aufgabe wird es sein, das Land zu einen. Jetzt tut er genau das Gegenteil.

Allerdings darf man bei all der berechtigten Kritik an Mursi auch eines nicht übersehen. Die Säkularen, die Liberalen und die Kopten haben sich in beiden Kammern vom Acker gemacht. Natürlich sind sie immer überstimmt worden. Aber das ist nun mal in einer Demokratie so, dass einer die Mehrheit besitzt und der andere in die Röhre schaut. Die Bereitschaft, dicke Bretter zu bohren, zu verhandeln, immer wieder zu reden und/oder stabile Bündnisse zu schmieden ist in Ägypten nicht besonders ausgeprägt (dabei können sie doch angeblich so gut handeln!). Ich erinnere nur an den Ägyptischen Block. Es ist eben immer noch einfacher, eine Demonstration zu organisieren, als eine Mehrheit. Und damit sind wir wieder auf der Straße angelangt.

Egal ob auf den Tahrir- oder dem Nahada-Platz. Mit kommen beide Gruppen im Moment so vor, wie zwei Minibusfahrer, die sich ein mörderisches Rennen liefern. Eigentlich wissen beide ganz genau, dass es irrsinnig gefährlich ist, was sie gerade veranstalten. Aber es schert sie nicht – so lange nicht, bis es knallt.

 

Dschihadistische Wahlkampfhilfe

Es war ein Schock in der Morgenstunde, was ich da heute als Aufmacher auf der Titelseite des Berliner „Tagesspiegel“ zu sehen bekam: Der Verfassungsschutz sorgt sich um die Zukunft Ägyptens! Leider war die Überschrift in der gedruckten Version noch erheblich reißerischer als in der nun verlinkten. Den Grund für die Sorge erläutert der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen in einem großen Interview mit dem Blatt. Nach der Lektüre dieser beiden Beiträge war der Tag für mich eigentlich schon gelaufen, ehe er so richtig begonnen hatte.

Klar heute ist 9/11-Gedenken, da darf man beim obersten Verfassungsschützer schon mal nachfragen, was die Dschihadisten so machen, also jene Gruppe Islamisten, die sich selbst im Heiligen Krieg sehen und ihn gegebenenfalls auch führen. Aber dieses Interview war dann schon ein wenig starker Tobak. Dass die markerschütternde Erkenntnis sein soll, dass 23 salafistische Dschihadiisten (oder dschihadistische Salafisten) nach Ägypten ausgereist sind und damit mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr ist ja wohl kaum eine Erkenntnis, die den eh schon geschundenen Staat in seinen Grundfesten erschüttern würde. Da gibt es deutlich wichtigere Erkenntnisse, die aber schon seit längerem bekannt sind. Etwa dass die Regierung faktisch keine Kontrolle mehr über den Sinai hat, ist spätestens nach der Ermordung von 16 Grenzsoldaten durch islamistische Terroristen wohl jedem klar geworden. Auch weiß man schon seit geraumer zeit, dass Al-Quaida-Zellen nahe der israelischen Grenze operieren. Auch dass Ägypten seit Jahren für deutsche Salafisten eine wichtige Rolle spielt ist ebenfalls nicht mehr der große Bringer. Ob ich Herrn Maaßen verraten soll, dass der berühmt-berüchtigte deutsche Islamist und Hassprediger Pierre Vogel, alias Abu Hamza, seine kruden Schriften in Kairo drucken läßt? Offenbar war das dem Verfassungsschutz-Chef nicht klar, sonst hätte er es in diesem Interview sicher auch einer größeren Öffentlichkeit verraten.

Was an diesem Interview so ärgerlich ist, ist die Tatsache, dass Ägypten vom Chef des deutschen Verfassungsschutzes so dargestellt wird, als entwickle es sich zu einem zweiten Afghanistan. Millionen von Urlaubern wissen es zu schätzen, dass man relativ leicht und unkompliziert in das Land einreisen kann. Da können dann tatsächlich auch ein paar Salafisten dabei sein. Und dass Ägypten zur Drehscheibe des Terrors wird, weil das Land gute Fluganbindungen in die ganze Arabische Welt hat, scheint mir auch eine sehr gewagte These zu sein.

Was an diesem Interview so gefährlich ist, ist die Tatsache, dass Ägypten vom Chef des deutschen Verfassungsschutzes auch als Urlaubsland diffamiert wird. Wer will schon seine Ferien einer Dschihadisten-Hochburg verbringen? Statt sich um 23 reisende Salafisten zu sorgen, sollte man sich lieber um 23 Millionen Ägypter sorgen, die direkt oder indirekt von den Einkünften aus dem Fremdenverkehr abhängig sind. Die verlieren durch so ein Geschwätz die Lebensgrundlage.

Das Land hat weiß Gott genügend Sorgen, da braucht es nicht noch solche Interviews. Als Hintergrundinformationen mögen solche Dinge ja vielleicht noch hilfreich sein – ich sage ausdrücklich vielleicht – aber sie so hoch zu hängen? Nein, das ist fahrlässig.

…fällt selber rein. Mit Plakaten dieser Bauart sorgte Bundesinnenminister Friedrich für viele lustige Ideen im Netz und für ein Ende der Kommunikation mit islamischen Verbänden.

Die Frage ist nun, warum tut der Mann das? Er ist erst wenige Wochen im Amt und wenn wir uns erinnern, hat es um seine Ernennung sowie die Personalpolitik von Innenminister Hans-Peter Friedrich einigen Wirbel gegeben. Zu den Personalrochaden war es unter anderem wegen der Ermittlungspannen im Zuge der Untersuchungen gegen die rechtsterroristische NSU gekommen. Da steht auch der Minister nach wie vor unter Druck. Reflexartig versucht Friedrich immer wieder auf die tatsächliche oder vermeintliche Gefahr aus dem islamistischen Umfeld abzulenken. Es ist ja gerade mal zwei Wochen her, da machte Friedrich mit einer Plakataktion von sich reden, in der zur Wachsamkeit vor in den Terrorismus abrutschenden jungen Menschen gewarnt wurde. Die Plakataktion war sehr erfolgreich: Sofort wurde sie im Netz eifrig parodiert und so ziemlich alle islamische Organisationen in Deutschland haben Friedrich die Zusammenarbeit aufgekündigt. Nicht wenige vermuten, dass Friedrich ganz bewußt den Weg der Kommunikation aufgibt und die Konfrontation sucht um damit die Probleme beim Kampf gegen den Neonazi-Terror zu überspielen. So gesehen sind die 23 reisenden Dschihadisten eher als Wahlkampfhelfer für Hans-Peter Friedrich zu sehen, denn als existenzielle Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung.

Der Tod des Vizepräsidenten

Jetzt hat der eigentlich schon totgesagte Hosni Mubarak auch noch seinen einzigen Vizepräsidenten überlebt. In Cleveland, Ohio, ist heute Omar Suleiman gestorben. Sein Leben war so etwas wie ein Spiegelbild der wiedersprüchlichen Geschichte des jungen Ägypten. Unter Nasser war es ihm möglich, an der Frunse-Militärakademie in Moskau zu studieren, um dann – nach Sadats ideologischer Kehrtwende – seine Studien an der Miliärakademie im Fort Bragg, North-Carolina, fortzusetzen.

Dem Westen galt Omar Suleiman stets als vernünftig und pragmatisch. Allerdings war er seit 1991 erst Chef des Militärischen Geheimdienstes und danach leitete er Muchabarat, einen der Inlandsgeheimdienste. Er setzte, Mubarak direkt unterstellt, die wechselvolle Politik des Präsidenten um. Je nach politischer Großwetterlage wurden die Zügel wie in den 90er Jahren gelockert, oder heftig angezogen wie nach den Anschlägen vom 11. September.

Als Geheimdienstler hat sich Omar Suleiman mit Sicherheit weltweit einen hervorragenden Ruf verschaffen – nicht zuletzt deshalb, weil er jeden Attentatsversuch auf Hosni Mubarak verhindern konnte. Und da hat es wohl einige gegeben. Von sechs wird immer wieder mal gesprochen, aber ob das so stimmt? Am Spektakulärsten war wohl das Attentat 1995 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Tags zuvor hatte Suleiman noch die Präsidentenlimousine gegen ein gepanzertes Fahrzeug austauschen lassen. Als dann die Kugel in dieses einschlugen, saß Suleiman neben Mubarak. Der hat das seinem Geheimdienstchef nie vergessen. Mir persönlich kommt diese Geschichte allerdings ein wenig merkwürdig vor.

Seltsam erscheint es mir auch, dass Suleiman als korruptionsresistent galt und auch noch als vergleichsweise human. Jedenfalls soll der Muchabarat am wenigsten hart zugeschlagen haben. Für mich sieht das eher so aus, als habe da einer an seiner eigenen Legende gestrickt. Es reichte zumindest für das zweite Amt im Staate. In der zweiten Januarhälfte 2011 wurden die Proteste gegen Mubarak immer heftiger, und eine der Forderungen lautete, dass der Präsident nach nunmehr knapp 30 Jahren endlich mal einen in der Verfassung vorgesehen Vizepräsidenten berufe. Was ein Vizepräsident allerdings mit Freiheitsrechten zu tun hat, erschließt sich mir nicht so recht. Dass er eigentlich gar nichts damit zu tun haben musste, zeigte die Berufung Omar Suleimans. Die Ägypter staunten jedenfalls nicht schlecht, als ihnen ausgerechnet ein Geheimdienstchef als Vizepräsident serviert wurde.

Inwieweit Suleiman am Sturz Mubaraks beteiligt war, weiß ich nicht, aber eigentlich hätte er ja dann Präsident werden müssen, war er doch der Vizepräsident. Doch weder wurde er Präsident noch blieb er Vizepräsident (was mangels Präsident auch sinnfrei gewesen wäre). Trotzdem gedachte er, seinen einstigen Mentor noch zu beerben. Suleimann wäre gerne zur Präsidentschaftswahl angetreten. Immerhin konnte er nach einer Umfrage auf 20,1 Prozent Zustimmung verweisen. Am Ende wurde er von der Wahlkommission ebenso kaltgestellt, wie viele andere auch. Seine Reaktion: Er kaufte sich ein Ticket und verabschiedete sich in die USA. Aus Angst, er könnte doch noch vor Gericht gestellt werden? Allen Legenden zum Trotz: Es gab ja massive Foltervorwürfe. Aus Überdruss? Seinen Lebensabend konnte er nicht besonders lange genießen.

Eigentlich hat Ägypten in seinem ganzen Chaos dann doch immer wieder mal ein wenig Glück. Nur mal ein Szenario das so abwegig gar nicht scheint: Hätte Suleiman kandidieren dürfen und möglicherweise die Wahl gewonnen, stände Ägypten heute wieder ohne einen Präsidenten da, und das ganze Hickhack begänne von vorn.

Die erste Besprechung

Trotz des Regens bin ich heute richtig beschwingt, denn die erste Buchbesprechung in einem „überregionalen Medium“ ist erschienen. Und dann gleich im Berliner Tagesspiegel. Das hat mich in sofern ein wenig überraschend getroffen, da ich sie gar nicht bemerkt hatte. Ich bin zwar Abonnent des Tagesspiegels, doch ich hatte am Sonntag einfach nicht auf den Reiseteil geachtet – warum auch immer. Normalerweise gehört er zu meiner Sonntagslektüre.

Inhaltlich finde ich die Besprechung insgesamt sehr wohlwollend. Allerdings lege ich doch Wert darauf, dass ich persönlich auf die Frage Alles klar, Ägypten? keine negative Antwort geben würde. Ich glaube, dass Ägypten trotz aller Verwerfungen insgesamt auf einem guten Weg ist, und ich glaube, dass es ein tolles Urlaubsland ist – mehr denn je.  Aber der Rückschluss des Tagesspiegel-Redakteurs Gerd Seidemann zeigt doch zwei Dinge sehr deutlich: Einerseits ist das Buch, wie er schreibt und ich selbst immer wieder betone, natürlich eine Momentaufnahme. Andererseits sind es natürlich auch die aktuellen Ereignisse, an denen sich das Buch immer wieder messen lassen muss. Dass der Machtkampf zwischen Präsident Mohammed Mursi und dem Militärrat nicht eben förderlich für die politische Stabilität im Lande ist, liegt ja nun leider auf der Hand.

Insgesamt hat mir die Rezension sehr gut gefallen, und ich hoffe, dass noch weitere ähnlich positive Besprechungen hinzukommen werden. Soweit mir bekannt ist, will das Tauchreisemagazin „Silent World“ in einer seiner nächsten Ausgaben eine Besprechung bringen.

Für „Silent World“ fliege ich im übrigen am 2. August wieder nach Ägypten. Einerseits werde ich dort alles in allem vier Reportagen und ein großes Interview machen. Andererseits will ich die Gelegenheit auch dazu nutzen, in verschiedenen Hotels und Tauchbasen noch zu lesen. Es gibt, glaube ich, schlimmere Aufgaben im Leben. Und ganz ehrlich: Die Aussicht auf knapp drei Wochen mit einer Regenwahrscheinlichkeit von genau 0 Prozent ist dann doch auch sehr verlockend.

Die sind doch alle gleich

Ist das nicht komisch? Der Satz „Alle Menschen sind gleich“ klingt schön, klingt völkerverbindend und politisch korrekt. Man ersetze nun das Wort Menschen durch Moslems. „Alle Moslems sind gleich.“ Das klingt schon weniger schön. Das impliziert, alle Moslems seien potentielle Terroristen, und der Satz müffelt auch ein wenig nach Rassismus. Trotzdem habe ich diesen Satz gestern Abend von einer Bekannten gehört, die ganz und gar nicht im Ruch steht, rassistisch zu sein. Es ging um den arabischen Frühling um die Revolutionen in Tunesien, Libyen und Ägypten – und natürlich um den Bürgerkrieg in Syrien.

Ihre These klang ziemlich einfach. Egal, was wo in welchem Land in Arabien passiert, am Ende wird sich der Islamismus in seiner radikalen Weise durchsetzen – also in Form zum Beispiel des Salafismus‘. Dafür bekam sie am Tisch auch noch entsprechende Unterstützung. Ich wandte ein, dass man dann genausogut bei der Euro- und Finanzkrise Länder wie Finnland und Griechenland, Holland und Spanien, Irland und Österreich oder Frankreich und Deutschland in einen Topf werfen könnte – sind ja alles Europäer. Tatsächlich gibt es in all diesen Ländern völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Krise zu lösen sein und sehr kontroverse Auseinandersetzungen darüber.

In den arabischen Ländern sieht es nicht viel anders aus. So sind zum Beispiel die jungen Monarchen Mohammed VI. von Marokko und Abdallah II. von Jordanien mit der Arabellion ganz anders umgegangen, als zum Beispiel Bashir al-Assad in Syrien. Das Ergebnis dürfte sogar den meisten Europäern bekannt sein. Natürlich gibt es auch in Marokko und in Jordanien eine größere Hinwendung zur Religion, aber von einem islamistischen Gottestaat sind beide Länder wohl weit entfernt.

Das gleich gilt auch für Ägypten. Moslembrüder hin oder her. Am vergangenen Dienstag ging es in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ weitgehend um Syrien, doch einen beträchtlichen Teil der Sendung machte auch Ägypten aus. Unter anderem war der deutsche Lehrer Günter Förschner eingeladen, der an einer deutschen Mädchenschule in Alexandria unterrichtet. Er war schon ein Jahr zuvor Gast bei Frank Plasberg gewesen. Nun bezeichnete der Lehrer die Moslembrüder als größtes Risiko für die Demokratisierung in Ägypten. Prompt handelte er sich Widerspruch vom ARD-Korrespondeten Jörg Armbruster ein. Es sei tatsächlich der Militärrat der die Demokratisierung des Landes gefährde. Armbruster gab zu, dass er die Moslembrüder auch nicht besonders schätze, aber dass sie immerhin als Sieger aus der ersten freien demokratischen Wahl in diesem Land hervorgegangen sind, das es jetzt auch schon 7.000 Jahre gebe.

Niemand kann seriös voraussagen, wie sich der arabische Frühling wirklich entwickeln wird. Die einzige Prognose, die mit Sicherheit eintreten wird, ist die, dass es eben in jedem Land unterschiedlich passieren wird. Es in in letzter Zeit Mode geworden, Tunesien und Ägypten, so wie ihren Weg zur Demokratie zu vergleichen und das Urteil fällt häufig sehr undifferenziert aus. In beiden Ländern hätten die Religiösen die Revolution für sich gekapert und würden das Land nun wenn nicht in einen Gottesstaat, so doch zu einem autokratischem Regime führen. Das gleiche wurde auch für Libyen vorhergesagt. Dumm gelaufen, denn bei den Wahlen vor wenigen Tagen gab es eben keinen haushohen Sieg von Gotteskriegern, sondern einne Erfolg der Liberalen.

Und dann noch zu der wohlfeilen Legende der ersten freien Wahlen in arabischen Ländern. Nein, die waren kein Produkt des arabischen Frühlings und kein Demokratiegeschenk der Amerikaner im besetzten Irak. Gerne wird in Europa unterschlagen, dass es bereits vor 20 Jahren in Algerien freie Parlamentswahlen gab, die dann allerdings – auch auf massiven Druck Frankreichs – abgebrochen wurden, weil sich ein Sieg der islamistischen Partei FIS abzeichnete. Was sollen also die Araber von den Europäern denken? Ja, von den Europäern! Oder ist etwa bekannt, dass der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl – noch völlig besoffen vom Rausch der Wiedervereinigung – seinem Freund François Mitterand in den Arm gefallen wäre, um diesen Anschlag auf die Demokratie zu verhindern? Nein! Die Wahlen wurden annuliert. Diese Aktion hat das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt, dem 120.000 Algerier zum Opfer fielen. Heute ist Algerien ein autoritärer Staat, bar jeglicher Demokratie, an dem der arabische Frühling einigermaßen wirkungslos vorbeigegangen ist. Allerdings hat das Land auch einen Präsidenten Bouteflica, der die Algerier miteinander auszusöhnen versucht.

Der ehmalige israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Avi Primor, hat in „Hart aber fair“ übrigens noch auf einen sehr interessanten Aspekt aufmerksam gemacht. Als vor zehn Jahren in der Türkei die islamische AKP an die Macht kam, gelang es ihr relativ schnell, die Macht der Militärs, die seit 40 Jahren faktisch die Türkei beherrscht hatten, zu brechen. Und es gelang ihnen, einen gigantischen Wirtschaftsaufschwung hinzulegen, mit einem jährlichen Wachstum von neun bis zehn Prozent. Niemand würde heute daran zweifeln, dass die Türkei eine moderne Demokratie ist, auch wenn aus Ankara manchmal ein merkwürdiges Brummeln kommt. Im Endeffekt, so glaubt Primor, gehe es ja dann doch immer nur um die Wirtschaft. Oder, wie der frühere US-Präsident Bill Clinton einmal einem Konkurrenten im Wahlkampf an den Kopf warf: „It’s the economics, stupid!“ – „Es geht um die Wirtschaft, Idiot!“