Al Sisi überrascht den Spiegel

Die Haltung der deutschen Medien zu dem, was im Juli und August 2013 in Ägypten passierte, ist relativ eindeutig. Der Sturz von Mohammed Mursi wurde allenthalben als Militärputsch bezeichnet, mit dem Mastermind Abdel Fatah al-Sisi als Strippenzieher im Hintergrund. Und dass sich der ehemalige Feldmarschall dann in einer pseudodemokratischen Wahl nach einer angemessenen Schamfrist zum Präsidenten wählen ließ und damit faktisch zum Diktator machte, schien in der deutschsprachigen Presse ebenfalls eine ausgemachte Sache.

Und nun ist dem Spiegel eine nahezu sensationeller Scoop gelungen. Das Hamburger Nachrichtenmagazin bekam als eines der ersten westlichen Medien ein zweistündiges Interview mit dem Ägyptischen Präsidenten (Link zum kostenpflichtigen Artikel), der eher als pressescheu gilt. Die Kollegen Dieter Bednarz und Klaus Brinkbäumer konfrontierten Sisi so ziemlich mit allem, was man ihm in der deutschen Presse nachsagt. Sie thematisierten die Räumung des Camps auf dem Raba’a-Platz, bei dem zwischen 600 und 700 Menschen ums Leben kamen, ebenso wie die Inhaftierung von Revolutionären oder die jüngsten 183 Todesurteile. Zu ihrer Verblüffung hatte Sisi auf jede Frage eine plausible Antwort parat. Doch das ist noch nicht alles. Die Gesprächsatmosphäre und die eigene Nachdenklichkeit des Präsidenten haben die beiden Spiegelmitarbeiter tief beeindruckt. Mindestens so spannend wie das Interview, das seit Samstag an den Kiosken zu haben ist, ist das Video auf Spiegel Online über den Ablauf des Interviews.

Es ist ja kein großes Geheimnis, dass ich an dieser Stelle schon häufig die deutschen Medien für ihre doch bisweilen merkwürdige Ägypten-Berichterstattung kritisiert habe. So fragte ich mich etwa, warum es deutschen Medien wichtiger ist, über das Einreiseverbot von Amal Alamuddin Cloony nach Ägypten zu berichten, als über die Rede Sisis an der Al Ahzar Universität, in der er der versammelten Geistlichkeit mal so richtig die Leviten gelesen hat.

Vielleicht mag sich das jetzt nach diesem Spiegel-Interview ja ändern. Noch selten habe ich erlebt, dass Journalisten aus einem Gespräch mit solch einem verblüfften Aha-Erlebnis herauskommen und das auch noch ganz offen so kommunizieren. Das Wort „Diktator“ kommt ihnen jetzt schon schwerer über die Lippen. Erstaunlich ist auch, dass sich die Begrifflichkeit der Ereignisse vom Sommer 2013 geändert hat. Was für viele Ägypter die zweite Revolution war, galt dem Westen stets als Militärputsch. Dieses Wort fällt weder im Interview noch in der dazugehörigen Berichterstattung. Statt dessen ist jetzt von einem „Staatsstreich“ die Rede. Das klingt nicht so brutal und hat einen etwas legitimeren Unterton, als die Vokabel „Militärputsch“.

Natürlich kann man Abdel Fattah al Sisi für einen Diktator halten, kann sein hartes Vorgehen gegen die Opposition im Allgemeinen und die Moslembrüder im Besonderen beklagen. Was aber definitiv nicht in das Bild eines blutrünstigen Dikatator passt, ist die Tatsache, dass er sich genau dieser Kritik stellt, dass er sein Handeln auch erklären will. Ganz offensichtlich hält er nämlich seine Argumente für gut und stark genug, dass er sie in einem der wichigsten europäischen Nachrichtenmagazine kommunizieren will. Das heißt ja auch, dass er sich ausgerechnet dort, wo er am meisten kritisiert wird, der Presse stellt. Ein ganz so großer Feind der Pressefreiheit mag Sisi dann vielleicht doch nicht sein. Es ist übrigens spannend, die Berichterstattung jener deutschsprachigen Kollegen zu verfolgen, die am heftigsten die mangelnde Pressefreiheit in Ägypten beklagen. Es ist schon sehr erstaunlich, was sie alles über das Land berichten können, ohne dass man ihnen die Akkreditierung entzogen und sie aus dem Land geworfen hat.

Hafen-Terminal in Hurghada

Frisch eröffnet: Das neue Hafen-Terminal in Hurghada. Foto: psk

Dabei gibt es durchaus auch handfeste positive Dinge zu berichten. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen, etwa den zweiten Suezkanal. Der wurde in Rekordzeit finanziert, indem Aktien mit niedrigem Nennwert an die Bevölkerung verkauft wurden.  In Hurghada sind vor zwei Monaten ein Hafen und ein Flughafen eröffnet worden, Projekte also, mit denen natürlich auch zahlreiche deutsche Touristen in Kontakt kommen und die jetzt nicht gerade vom Niedergang des Landes künden.

Eine kritische Berichterstattung ist für ein funktionierendes Gemeinwesen und für die Demokratie unabdingbar. Aber sie muss auch ausgewogen sein. In den letzten beiden Jahren ist es mit Ägypten anscheinend rasend schnell bergab gegangen – diesen Eindruck müsste man gewinnen, wenn man die deutsche Presselandschaft verfolgt. Doch wer das Land kennt, wer es häufig besucht, sich mit den Menschen auseinandersetzt, stellt fest, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Es bleibt noch unendlich viel zu tun bis Ägypten seine gewaltigen Probleme in punkto Energie, Infrastruktur, Bildung und Wirtschaftsstruktur auch nur annähernd gelöst hat. Dazu gehört ein gerüttelt Maß an Ehrlichkeit und Selbsterkenntnis. Das verordnet Präsident Sisi derzeit auch seinem Land. Es würde Ägypten sicher helfen, wenn deutschen Medien ihn auf diesem Weg auch fair begleiten würden.

Definition einer Beleidigung

Es ist schon verblüffend mit welcher Schnelligkeit die ägyptische Geistlichkeit bewiesen hat, dass Präsident Sisi mit seinem Ruf nach einer religiösen Revolution recht gehabt hat. Die Reaktion der Al Ahza Universität auf die Titelseite der Charlie-Hebdo-Ausgabe hat das ganze Problem zwischen der islamischen Geistlichkeit und der christlich-abendländischen Lebensart offenbart. Das Cover wurde als Provokation und rassistischer Akt bezeichnet, also wiederum als Beleidigung des Islams bewertet.

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An diesem Punkt habe ich mich gefragt, wer denn eigentlich definiert, was eine Beleidigung ist: Der Beleidiger oder der Beleidigte? Betrachten wir uns doch einmal das Cover genauer. Eine weinende Figur mit Turban und Bart trägt ein Schild in der Hand: „Je suis Charlie“. Darüber steht der Satz „Tout est pardonné“ – „Alles ist vergeben“. Ich finde, dass ist alles andere als rassistisch oder provokativ. Im Gegenteil, es ist eine ganz große Geste der Versöhnung. Da haben in Frankreich drei junge Männer im Namen Allahs und des Propheten gemordet. In der westlichen Welt nehmen das leider viele zum Anlass, alle Moslems mit Terroristen gleich zu setzen. Die Opfer von Charlie Hebdo tun das eben nicht. Im Gegenteil: Durch das Weinen der Figur, durch das Schild „Je suis Charlie“ zeigen die Macher ja nur, dass auch sie davon überzeugt sind, dass die Attentäter eben nicht im Sinne Allahs und des Propheten gehandelt haben. Und darüber steht ein großes Bekenntnis der Vergebung und Versöhnung.

Und dann diese Reaktion aus Kairo! Inhaltlich können die Imame die Karikatur kaum kritisieren, sagt sie doch nichts anderes aus, als das, was sie vor Tagen von sich aus selbstherrlich in die Welt hinausposaunt haben. Es geht also um die Darstellungsform. Natürlich gehen die Geistlichen davon aus, dass es sich bei dieser Figur um Mohammed handeln – wobei selbst das ja nicht einmal sicher ist. Wenn der Prophet tatsächlich gemeint ist – und davon dürfen wir ruhig ausgehen – ist er in Form einer Karikatur dargestellt worden. Das ist in den Augen der islamischen Geistlichkeit das Verwerfliche, denn der Prophet darf nicht im Bilde dargestellt werden, schon gar nicht in einem Cartoon. Übrigens kennt der Koran gar kein Bilderverbot. Das Verbot im Islam wird aus den Hadithe abgeleitet. Aber es gilt vielen Moslems als wichtiges Gebot. Nun sind es ja keine Moslems, die diesen Cartoon gezeichnet oder veröffentlicht haben. Wären sie es, wäre es eine innerislamische Angelegenheit, dann wäre es Unsinn dem Westen per se Rassismus vorzuwerfen. Bei Charlie Hebdo handelt es sich um eine Satirezeitschrift, deren wesentliches Ausdrucksmittel die Karikatur ist. Verlangen die islamischen Sittenwächter allen Ernstes, dass sich die Opfer eines Anschlages, der auf sie im Namen des Islams verübt wurde, auch noch ihres eigenen Ausdrucksmittels berauben? Das hieße ja, Charlie Hebdo ein zweites Mal umzubringen! Nach dieser Logik ist es auch eine Beleidigung des Islams, wenn Ungläubige Schweinefleisch essen, Wein trinken und dem Glücksspiel frönen. Heißt das dann in der Schlussfolgerung, dass es eine Versöhnung nur zum Preis der Konvertierung geben kann?

Am Tag des Anschlages erschien in Frankreich der umstrittene Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. Darin entwickelt er die Vision eines Frankreichs, das sich aus lauter Political Correctness in einen islamistischen Gottesstaat verwandelt. Eigentlich hatte ich so etwas für Unsinn gehalten, aber die Reaktionen in der arabischen Welt auf das als Versöhnungsgeste gedachte Cover hat mich verstört. Vor allem ist die Reaktion Wasser auf die Mühlen jener 20.000 oder 25.000, die Montag für Montag unter der Fahne „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße gehen – und es ist auch ein Schlag ins Gesicht all der Zehntausend, die sich Montag für Montag gegen die Pegida-Demonstranten wehren. Und natürlich ist es vorderhand auch eine Niederlage für Abdel Fattah al Sisi, dessen Worte offenbar (noch) nicht auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Ich weiß, dass es auch in Ägypten Freunde von mir gibt, die nicht glücklich über die Karikatur waren. Aber vielleicht können auch sie die Botschaft weiter tragen, dass dieser Titel das genaue Gegenteil einer Provokation war, sondern das Versöhnungsangebot des Opfers – eines Opfers, das verzeihen kann. Daran müssen die ägyptischen Imame wohl noch arbeiten. Mich hat die Reaktion aus dem „Haus der Rechtsprechung“ übrigens als Europäer, Christ und Freund der islamischen Welt beleidigt – tief beleidigt. Aber ich geh am Montag trotzdem wieder auf die Straße und demonstriere – gegen die Islamfeinde der Pegida.

Sisis Sieg

Und wieder mal wird an der geringen Wahlbeteiligung herumgemäkelt. Angeblich haben sich nur 44 Prozent der ägyptischen Wähler an der Präsidentschaftswahl beteiligt. Sollte sich diese Zahl bestätigen, wäre sie ja so schlecht nicht. Sie läge damit so ziemlich im Schnitt aller Wahlen seit Beginn der Revolution. Einen Makel gäbe es trotzdem: Drei Tage hat man die Ägypter wählen lassen und dann am Ende sogar 500 Pfund Strafe jedem angedroht, der seiner Wahlpflicht nicht nachkommt. Das war vielleicht nicht unbedingt nötig und trägt nun nicht gerade dazu bei, den triumphalen Sieg noch heller scheinen zu lassen.

Ägyptens neuer Präsident: Der frühere Verteidigungsminister und Chef des Obersten Militärrates Abdel Fatah al Sisi.  Foto: Erin A. Kirk-Cuomo (CC BY 2.0)

Ägyptens neuer Präsident: Der frühere Verteidigungsminister und Chef des Obersten Militärrates Abdel Fatah al Sisi. Foto: Erin A. Kirk-Cuomo (CC BY 2.0)

Reflexartig sprachen die Moslembrüder natürlich von Wahlbetrug. Erstaunlicherweise bezogen sie sich beim Betrugsvorwurf gar nicht auf Stimmzettel, die zugunsten Sisis gefälscht worden seien, sondern gaben an, dass überhaupt nur zehn Prozent der Ägypter zu Wahl gegangen seien. Und hier wird die Sache interessant. Die Wahlbeteiligung schien fast wichtiger, als das eigentliche Wahlergebniss, weil der Sieger ja sowieso feststand. In den letzten drei Jahren waren es die Moslembrüder, die ihre Anhänger oft lastwagen- und busseweise zu den Wahllokalen karrten. Das haben sie diesmal natürlich nicht getan und stattdessen zum Wahlboykott aufgerufen. So richtig gefruchtet hat es wohl am Ende nicht. Andererseits wollte Sisi natürlich eine Wahlbeteiligung von über 50 Prozent, um zu dokumentieren, dass der Boykott-Aufruf der Moslembrüder völlig gescheitert ist. Das hat er deutlich verfehlt.

Bei über 90 Prozent Zustimmung liegt der Verdacht von Wahlbetrug natürlich immer auf der Hand, erinnert es doch an die Wahlergebnisse in den früheren sozialistischen Ländern. Aber das ist unwahrscheinlich, denn die Ägypter selbst hatten 190 Wahlbeobachter der OSZE angefordert. Bislang liegt deren Abschlussbericht noch nicht vor, es scheint aber so, als würde der ganz gut ausfallen.

Wenn es keinen Wahlbetrug gegeben hat und alle Zahlen stimmen, dann bleibt jedenfalls festzuhalten, dass sich Abdel Fattah al-Sisi auf einen ganz breiten Rückhalt der Bevölkerung stützen kann. Für Regierungskritiker werden jetzt vermutlich noch härtere Zeiten anbrechen, was gar nicht unbedingt direkt von dem neuen Präsidenten, vielmehr aber von seiner Entourage ausgehen wird.

Vermutlich hat Ägypten an jenen drei Tagen Ende Mai 2014 einen großen Schritt in Richtung Stabilität und Sicherheit getan. Aber das Land hat sich das auf Kosten von Freiheiten und Bürgerrechten erkauft. Das empfindet der Westen als schlimm und bedrückend, das gleiche gilt für Regimekritiker. Die überwältigende Mehrheit jener Ägypter, die al-Sisi gewählt hat, hat für solche Empfindungen gar keinen Sinn, mancher begreift sie sogar als Angriff auf das eigene Land.

Ob al-Sisi die gewaltigen Aufgaben, die vor ihm stehen, tatsächlich alle schultern kann, ist bisher ungewiss. Viele Ägypter sind aber davon überzeugt. Für sie ist er ein Heilsbringer, dem eine Welle der Begeisterung entgegenschlägt, wie vor ihm nur Gamal Abdel Nasser. Der war ein Diktator, den der britsche Premier Antony Eden gar mit Hitler verglichen hatte. Am Ende scheiterte Edens Karriere eben an jenem Nasser, den er nie richtig begriffen hatte.

Es bleibt zu hoffen, dass der Westen diesen neuen Präsidenten richtig einschätzen wird und Abdel Fattah al-Sisi alles erdenkliche Glück und eine sichere Hand wünscht bei den Aufgaben, die er in den nächsten Monaten und Jahren bewältigen muss. Es gibt auf diesem Planeten derzeit nicht viele Jobs zu vergeben, die noch undankbarer und gleichzeitig anspruchsvoller sind – außer vielleicht in der Ukraine.

Geplantes Chaos?

Die ägyptische Regierung ist zurückgetreten – komplett. Sehr lange hat sie nicht für diesen überraschenden Schritt gebraucht. Die Kabinettssitzung soll gerade mal 15 Minuten gedauert haben. Begründet hat Premier Hasan al Beblawi den Rückzug des gesamten Kabinetts nicht. Immerhin hat er noch in einem flammenden, an John F. Kennedy gemahnenden Aufruf die Ägypter ermahnt, mehr an ihr Land und weniger an ihre eigenen Interessen zu denken. Wenn das mal fruchtet. Auf jeden Fall hat der Rücktritt das Chaos im Land nicht gerade gedämpft. Aber war er so geplant?

Mitten in der Wirtschaftskrise und einem Kampf gegen den Terror, der im Norden des Sinais längst die Züge eines Bürgerkrieges trägt, macht sich die Regierung so mir nichts, dir nichts vom Acker. Auf das Ausland macht das nicht gerade einen guten Eindruck. Allerdings werden Beblawi nur wenige eine Träne nachweinen. So richtig überzeugend war er nicht, und vor allem stand er ganz im Schatten seines eigenen Verteidigungsministers, Abdel Fatah al Sisi. Er gilt als der starke Mann Ägyptens, und es wird gemutmaßt, dass genau er hinter dem Rücktritt der Regierung steckt. In vielen Berichten gibt es einen Querverweis darauf, dass Sisi, wenn er für die Präsidentschaft kandidieren will, als Verteidigungsminister zurücktreten müsste. Ja und? Dann wäre er eben zurückgetreten und muss ja deswegen nicht gleich die ganze Regierung mitreißen. Nein, das zeigt nur zweierlei. Einerseits ist da die schon fast manische Beschäftigung mit dem Übermenschen Sisi, der in Ägypten alles, aber auch gar alles zu kontrollieren scheint (und dabei doch offensichtlich so wenig im Griff hat), und andererseits ist es der Beweis dafür, dass es mit Polizeistaat und Willkürherrschaft doch nicht so weit her sein kann, wie das seit Monaten immer wieder behauptet wird.

Es scheint eher so, dass Beblawi von den andauernden Streiks entnervt einfach das Handtuch geworfen hat. Es sind – man höre und staune – ausgerechnet Staatsunternehmen wie die Post, die von den Streiks betroffen sind. Deren Bedienstete sollten allerdings auch nicht von dem neuen Mindestlohngesetz profitieren. Will man es positiv betrachten, dann gilt doch eines: Zumindest das Streikrecht ist in Ägypten noch völlig intakt und wird scheinbar auch leidlich ausgenutzt. Allerdings sind die Streiks auch völlig verständlich. Gerade im Staatsdienst sind die Verdienste jämmerlich, und die Lebenshaltungskosten in Ägypten sind förmlich durch die Decke geschossen. Zum Teil werden für manche Waren des täglichen Bedarfs schon fast Preise aufgerufen, wie wir sie in Mitteleuropa kennen – allerdings bei einem Monatslohn von 200 oder 300 Euro. Viele Ägypter haben nicht einmal so viel.

Der nächsten Übergangsregierung soll Wohnungsbauminister Ibrahim Mahlab vorstehen. Auch er wurde politisch von Hosni Mubarak sozialisiert, was in diesen Tagen nicht gerade eine Auszeichnung ist, aber doch immer häufiger vorkommt. Daher kommt auch die wachsende Angst davor, dass sich das alte Mubarak-Regime durch die Hintertür wieder an die Macht schleicht.

Doch da ist der frischgebackene Feldmarshall al Sisi vor. Natürlich will er Präsident werden, und er wird es auch. Dass er sich ziert und immer wieder sagt, dass er nur kandidiert, wenn ihn das Volk ruft, ist wohl mehr als nur Eitelkeit. Wenn er  gerufen wird, dann kann der den Ägyptern auch einiges abverlangen, was ein Beblawi als Premier eher nicht konnte, selbst wenn er noch so oft Kennedy zitiert. Dass Beblawis Nachfolger zum neuen Politstar avanciert, ist auch nicht gerade zu erwarten. Es sind schließlich die rosenbekränzten Porträts von Sisi, die durch die Straßen getragen werden.

Ich glaube nicht, dass hinter dem Rücktritt ein größerer Plan von Sisi wirkt. Im Gegenteil: wahrscheinlich ist er von dem Rückzug des Kabinetts kalt erwischt worden. Doch ändern wird das alles wenig bis nichts. Es wird schnell eine neue Regierung geben, und spätestens am 18. April hat Ägypten wieder jemand, der auch öffentlich zugibt, dass er bestimmt, wo es lang geht. Bis dahin muss Ägypten nämlich einen neuen Präsidenten gewählt haben.

Sissi soll’s richten?

Für mich gehört zu den erschütterndsten Folgen der Revolution in Ägypten, dass es nun ausgewiesene Demokraten sind, die laut einen Militärputsch herbeirufen. Wie verzweifelt müssen die einstigen Revolutionäre sein, wenn sie Freiheit und Demokratie auf diese Art und Weise beerdigen? Allerdings darf der europäische Beobachter dabei eines auch nicht außer acht lassen: Das Militär genießt in Ägypten ein überaus hohes Ansehen. Im Gegensatz übrigens zu Polizei und Sicherheitskräften. Daran änderte sich auch nichts, als der Oberste Militärrat vor einem Jahr dann doch recht kläglich an der stets ungeliebten Regierungsverantwortung scheiterte.

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit.                 Foto: psk

Ägyptische Triangel: Religion, Tourismus, Freiheit. Foto: psk

Vor einem Jahr dann ereignete sich Erstaunliches. Mohammed Mursi stürzte den Militärrat und seinen Chef, Feldmarschall Tantawi. Ob das ein genialer Schachzugs Mursis war, oder doch nur ein abgekartetes Spiel, darüber wird heute noch trefflich gestritten. Allerdings gibt es aus der heutigen Sicht nur noch ganz wenige, die Mursi einen solchen Geniestreich zutrauen. Entweder war er damals gut beraten, oder Tantawis Rausschmiss war das berühmte Korn, das auch mal ein blindes Huhn findet.

Sein Nachfolger heißt Sissi – ja, er heißt so und nun keine Witze mit Namen bitte – und der hat sich bislang stets zurückgehalten. Nun ist er ja nicht gerade ein Mann der Opposition. Aber seine Äußerungen in der Vergangenheit klangen nachgerade demokratietragend. Ein Eingreifen der Armee würde Ägypten in seiner Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. So war es im Handelsblatt zu lesen. Mann kann es aber auch so interpretieren, dass er meinte: „Hände weg von den Moslembrüdern.“ Die haben das allerdings schon alleine geschafft. Wahrscheinlich gelang es in der bisherigen Weltgeschichte nur den Roten Khmern, ihr Land nach der Machtübernahme noch schneller herunterzuwirtschaften.

Inzwischen klingt Armeechef Abdel-Fattah al-Sissi auch ein wenig anders. Er warnte nun, dass das Militär notfalls doch eingreifen werde, wenn Ägypten, in einem „dunklen Tunnel“ zu versinken drohe, berichtet der Zürcher Tagesanzeiger. Vorausgegangen waren Drohungen von Mursi-Anhängern, Demonstranten am 30. Juni bei der geplanten Großdemonstration totzuschlagen. Morddrohungen gegen die Opposition aus dem islamistischen Lager sind inzwischen freilich an der Tagesordnung.

Trotzdem ist es bemerkenswert, dass sich das Militär erstmals so eindeutig positioniert hat. Es zeigt, dass die Moslembrüder ganz rasant auch an Ansehen verlieren. Und es zeigt weiter, dass es das Militär seinerseits mit der Angst zu tun bekommt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen ist das die große wirtschaftliche Macht: 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wird von Militärunternehmen erwirtschaftet. So, wie die Wirtschaft im letzten Jahr zusammenkrachte, geht es der Armee inzwischen richtig ans Eingemachte. Zum anderen fürchten die Militärs auch um ihre Popularität im Volk. Es ist ja nicht so, dass von den rund 47 Prozent, die die Brüder gewählt hatten, die meisten Mord und Totschlag befürworten. Im Gegenteil.

Und dann gibt’s da noch eine andere Meldung, die al-Sissi wohl bestätigen dürfte. Südlich von Kairo wurden jetzt erstmals vier Schiiten von einem 3000-köpfigen Mob umgebracht. Es waren mal wieder Salafisten-Prediger, die offen zu Gewalt an etwa 40 Schiiten aufgerufen hatten. Im Parlament machen die Moslembrüder, aller heiligen Eide zum Trotz, seit einem Jahr gemeinsame Sache mit der Partei „El Nur“, dem politischen Flügel der Salafisten. Die haben nun nicht mehr nur christliche Kopten, sondern auch andersgläubige Moslems im Visier. Das könnte die Geduld der Mehrheit der Ägypter so langsam überstrapazieren

Ob der 30. Juni, wie viele Oppositionelle hoffen, der Auftakt zur „Zweiten Revolution“ sein wird, daran habe ich meine Zweifel. Aber die Anzeichen auf einen Zerfall der Mursi-Ära werden immer deutlicher. Das sehen offensichlich auch andere so. Vor knapp einer Woche beklagte ich noch, wie rasant das Ägyptische Pfund auseinander bricht. Da bekam man für einen Euro neun Pfund und 36 Piaster. Heute sind es neun Pfund und 18 Piaster. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen können.