So also sieht Revolution aus. Wer nie eine mit erlebt hat, geht davon aus, dass sich 24 Stunden am Tag kreischende Menschenmassen durch die Straßen bewegen, mit Transparenten fuchteln, Mollis werfen, Barrikaden bauen und manchmal einen König köpfen. Ich für meine Person erlebe zum ersten Mal eine Revolution mit. Nun muss ich feststellen, dass ich so manchem Irrtum unterlegen bin. So ging ich fälschlicherweise davon aus, dass es in Ägypten zwei Revolutionen gab, die im Januar und Februar und dann noch eine im November und Dezember. So wurde es auch etwa von den deutschen Medien dargestellt. Das ist falsch. Die Revolution vom Januar hat nie aufgehört. Ich dachte auch, dass ich in Hurghada einigermaßen weitab vom Schuss sei. Auch das hat nicht gestimmt. Revolution sieht nämlich ganz anders aus. Wer tagsüber am Strand liegt oder mit dem Boot hinaus zu den Inseln fährt, der bekommt in der Tat nicht besonders viel mit. Doch wer mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt geht, spürt den Unterschied. Die Aggressivität unter den Ägypter ist viel größer geworden. Jahrelang hatten Polizei und Militär den Daumen drauf. Die Polizei war verhasst, das Militär beliebt. Vor beiden Uniformen hatte man aber einen Mordsrespekt. Das ist vorbei. Andererseits ist die Polizei, die früher sehr willkürlich agiert hat, nun nahezu überkorrekt, was sich darin zeigt, dass nun überall und immer alles mögliche kontrolliert wird – was die Touristen allerdings kaum tangiert.
Im Zweifelsfall macht jeder Ägypter an jeder Straßenecke seinen eigenen Tahir-Platz auf. Beim Fußballspiel in El Gouna erlebte ich ein ziemlich bizarres Beispiel. Der Block mit den vielleicht 100 Fans von El Masri war schwer von Polizei bewacht. Kurz vor Ende stürmten die El-Masri-Ultras (so nennen die sich wirklich) den Nachbarblock. Nur – der war leer. Der nächste El Gouna-Fan befand ich auf der Gegenseite. Die Sicherheitskräfte kamen gerannt, es wurde gebrüllt und dann marschierten die Fans wieder zurück in ihren Block und fanden es lustig, dass die armen Teufel in Uniform und Schild und Helm so richtig rennen mussten. Ein paar Minuten später fingen El-Gouna-Anhänger an, sich untereinander zu prügeln. Dann gab es Elfmeter für El Gouna und die Prügelei war schlagartig vorbei. Seit der Revolution sei die Zahl der Spielabbrüche in der ersten ägyptischen Liga sprunghaft gestiegen, erzählte mir Samih Sawiris.
Seit inzwischen vier Tagen warte ich auf einen Interviewpartner, der aus Mansura im Norden Ägyptens nach Hurghada kommen soll. Leider kam er nicht aus der Stadt heraus, weil Demonstranten die Ausfallstraßen blockierten. Sie sind vom Wahlausgang in ihrer Stadt enttäuscht. Selbst, wenn er gestern hätte fahren können: Bis nach Hurghada wäre er nicht gekommen. Bei Ras Gharib war die Küstenstraße ebenfalls zu. Dort gab es eine große Demo gegen die Ölindustrie am Ort. Dort saßen dann einige Busse voller Touristen fest, die von Kairo nach Hurghada wollten.
Dass das Internet seit Tagen nur bruchstückhaft funktioniert, ist wohl auch eine Folge der Revolution. So etwas kann zwar in Ägypten immer wieder passieren – aber nicht tagelang. Es kümmert sich eben keiner richtig darum.
Revolution bringt immer ein Stück Anarchie mit sich. So gesehen läuft es hier ja noch prächtig. Aber wer sie besichtigen will, der kann die Anarchie in Ägypten in bestimmten Bereichen erleben. Es ist nun allerdings nicht so, dass hier das gesamte öffentliche Leben mit einem großen Seufzer in sich zusammenbricht. Das meiste läuft wie eh und je, aber nicht immer so glatt, wie in den vergangen Jahren (in denen es natürlich auch in regelmäßigen Abständen gewisse Aussetzer gegeben hat).
Ob ich Angst habe? Nee, zu Touristen sind die Ägypter nach wie vor nett. Als mich gestern ein Taxifahrer beschummeln wollte und ich mich lautstark zu Wehr setzte, standen sofort vier da, um mir zu helfen. Auch das ist Ägypten. Die Revolution ist nicht nur der Tahir. Es ist spannend zu erleben, wie sie sich im Alltag auswirkt. Manchmal scheint es so, als ob die Ägypter daran sogar richtig Spaß haben. Aber sie wollen dann nur spielen – so meint es mancher Europäer wenigstens. Ein bisschen ist da ja auch was dran. 30 Jahre lang war die Meinungsfreiheit in Ägypten – die auch unter Sadat nicht grenzenlos war – sehr eingeschränkt. Nun macht jeder, egal ob er für oder gegen Mubarak war, ausgiebig von dem Gebrauch, was er Meinungsfreiheit nennt. Dann wird es auch mal laut, oder es fliegen die Fäuste. Es ist nichts anderes, als der berühmte Dampf, der aus dem Kessel raus muss. Für den Reisenden ist es faszinierend, für die Menschen die hier leben – soweit sie Ausländer sind – lästig bis beängstigend. Aber ich glaube, es sind Begleiterscheinungen einer jeden Revolution. Sie werden in dem Moment verschwinden, in dem es wieder eine handlungsfähige, stabile Regierung gibt – egal welcher Couleur. Außerdem: wir in Europa fanden die Arabellion doch alle ganz toll – schon vergessen?
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