Als ich vor ein paar Tagen aus Ägypten zurück kam, erklärte ich als profunder Kenner des Landes jedem, wie die Präsidentschaftswahlen ausgehen würden. „Wahrscheinlich kommen Moussa und Abul Futuh in die Stichwahl. Der eine hat Erfahrung, der andere Charisma. Mursi und Shaffik haben keine Chance, der eine ist zu farblos, der andere nicht vermittelbar.“ Deshalb stehen jetzt Mursi und Shaffik in der Stichwahl. Irgendwie erinnerte mich das fatal an meine Zeit als Sportredakteur, wenn ich am Freitag in einer Vorschau schrieb, warum eine Mannschaft am Samstag gewinnt und ich am Montag erklären musste, warum sie verloren hat.
Trotzdem war ich ein leidlich ordentlicher Sportredakteur. Trotzdem glaube ich, die Lage in Ägypten auch ganz gut beurteilen zu können – wenn das überhaupt einer kann. Schließlich war ich ja nicht der einzige, der sich geirrt hat. Aber was ich definitiv hätte voraussagen können, waren die Reaktionen auf diesen Wahlausgang. Da ist von Katastrophe die Rede, vom Ende oder gar dem Verrat an der Revolution, von der gescheiterten Demokratiebewegung. Ich gebe zu, ich war im ersten Moment auch ein wenig geschockt, weil ich mir einen anderen Wahlausgang gewünscht hätte. Doch bei näherer Betrachtung ist diese Ausgangslage vielleicht gar nicht mal die schlechteste für das Land – und seinen Weg zu einer wirklich funktionierenden Demokratie. Steile These? Ich versuch es mal zu erklären.
- Hätte irgendein Kandidat der Säkularen die Wahlen gewonnen, dann wäre er vermutlich an den überzogenen Erwartungen an ihn ganz schnell zerbrochen. Sollte der Moslembruder Mursi die Wahlen gewinnen, liegen auf ihm ganz andere Erwartungen (die er wohl auch nicht alle zur Zufriedenheit seiner Anhänger erfüllen kann).
- Mursi hat etwa 25 Prozent geholt. Bei den Parlamentwahlen hat die Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ aber 47 Prozent erreicht. Mursi hat es also schon mal geschafft, den Stimmenanteil seiner Partei fast zu halbieren.
- Wenn Mursi Präsident werden will – Shaffik liegt ja nur zwei oder drei Prozent hinter ihm – wird er Zugeständnisse an die Säkularen und Liberalen machen müssen, sowohl personell, als auch programmatisch.
Das heißt, jetzt muss verhandelt werden. Immerhin – und das scheint ja unbestritten – sind die Ägypter im Handeln große Klasse. Sage niemand, dass es um ein Geschachere geht. Wenn hierzulande eine Wahl gelaufen ist, geht es auch erst nach Schließung der Wahllokale ans Eingemachte. Hier nennt man das Koalitionsverhandlungen. So etwas ähnliches wird es in den nächsten drei Wochen auch in Ägypten geben. Das gehört eben genau so zur Demokratie, wie Wahlkampf und Wahlen. Übrigens ist der Wahlkampf bislang ausgesprochen gut verlaufen, gemessen an den apokalyptischen Vorhersagen.
Ich habe auch schon den Einwand gehört: „Der kann jetzt ja viel versprechen, aber ob er es dann nach der Wahl einhält?“ Nein, in diesem Fall geht es ja um feste Abreden. Wenn Mursi zum Beispiel will, dass Abul Futuh sich für ihn ausspricht, muss er ihm etwas bieten, was Futuhs Anhänger bewegt, Mursi die Stimme zu geben. Wenn er dann sein Versprechen vergisst, ist es gut möglich, dass der der Tahrir relativ schnell wieder relativ rege besucht wird.
Umgekehrt gilt das alles natürlich genauso für Shaffik. Ich persönlich glaube aber eher, dass es auf Mursi hinausläuft. Der muss übrigens den Salafisten gar keine Zusagen machen, denn die haben gar keine andere Wahl als die, ihn zu wählen. Das finde ich persönlich übrigens ziemlich amüsant.
Die Ägypter haben bei dieser Wahl einmal mehr gezeigt, dass sie zu jeder Überraschung fähig sind. Vielleicht gilt das ja auch für den endgültigen Wahlsieger und künftigen Präsidenten des Landes. Anwar al Sadat galt als völlig farbloser, uncharismatischer Kompromisskandidat, als er 1970 die Nachfolge des verstorbenen Gamal Abdel Nasser antrat. Als er elf Jahre später ermordet wurde, war Ägypten nicht mehr dasselbe Land. Vielleicht wählen die Ägypter in drei Wochen den neuen Retter ihres Landes.
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