20 Jahre für Mohamed Mursi. Das ist schon eine kleine Überraschung, nachdem ägyptische Gerichte zuletzt mit Todesurteilen nur so um sich geworfen haben. Vor zehn Tagen erst ist Mohamed al Badie wieder mal mit der Höchststrafe bedacht worden. Seit am 7. März zum ersten Mal einer der Verurteilten auch tatsächlich gehängt wurde, ist die These, dass auf die Urteile keine Exekutionen folgen, auch vom Tisch. Nun war dem Hingerichteten zur Last gelegt worden, in Alexandria junge Menschen von einem Hochhaus in den Tod geworfen zu haben. Rein subjektiv wirkt das ganz besonders grausam. In sofern war auch nicht mit großen Protesten zu rechnen.
Drei Prozesse kommen noch
So ist es bemerkenswert, dass Mursi so vergleichsweise milde davon gekommen ist. Freilich stehen noch drei Prozesse aus und mindestens in einem erwarten Beobachter die Todesstrafe. Doch auch bei seinem Vorgänger Hosni Mubarak waren sich viele sicher, dass er am Strang enden würde. So ist es im Moment möglicherweise noch zu früh, um in dem Urteil tatsächlich eine Zeichen oder gar eine Trendwende zu sehen. Überraschen würde es allerdings nicht, wenn es so wäre.
Alte Rechnungen beglichen
Der Westen sieht in den Prozessen häufig ein von oben gesteuertes Mittel der Abrechnung mit den Moslembrüdern. Das würde bedeuten, dass den Richtern die Urteile direkt aus dem Präsidentenpalast diktiert würden. Dazu ist President Sisis sicher zu schlau. Tatsächlich sind die ägyptischen Gerichte unabhängiger, als man glauben mag. Das liegt auch daran, dass es eine zweigeteilte Justiz gibt, eine weltliche und eine geistliche, die seit Jahrzehnten rivalisieren und die auch zum Beispiel Mubarak nie so richtig in den Griff bekam. Die Anbrechnung mit den Moslembrüdern ist daher auch im weiteren Sinne eine Abrechnung der weltlichen mit der geistlichen Justiz.
Vom Putsch-General zum Partner
Es ist durchaus anzunehmen, dass mancher juristische Amoklauf, die die Massen-Todesurteile von Minja auch im Präsidentenpalast mit ein wenig Bauchgrimmen aufgenommen wurden. Außenpolitisch gaben sie ein verheerendes Signal. Insofern ist es denkbar, dass im Fall Mursi doch ein Wink aus Sisis Umfeld an das Gericht erging. Mit einem Todesurteil könnte der Präsident nicht viel gewinnen. Zwar fordert offenbar eine Mehrheit der Ägypter Mursis Kopf, doch den wird Sisis dem Volk nicht bieten. Bis vor etwa einem halben Jahr ist Sisi vom westlichen Ausland fast wie ein Paria behandelt worden, trug er doch das Stigma des Putsch-Generals. Inzwischen hat sich doch einiges geändert. Sisi hält der Koalition im Kampf gegen den IS buchstäblich den Rücken frei. Der Blutzoll, den die ägyptische Armee im Norden des Sinais zahlt, ist enorm hoch. Außerdem kämpft sie auch an der Libyschen Grenze gegen den Islamischen Staat – als einzige reguläre Armee im übrigen. Das macht Sisis im Westen langsam wieder hoffähig. Er wird mehr und mehr als Partner akzeptiert. Ein Todesurteil gegen Mursi käme da sehr,sehr ungelegen.
Junge Moslembrüder meutern
Es gibt aber auch noch einen anderen Punkt. Die Deutsche Welle hat herausgefunden, dass die verbliebenen Moslembrüder in Ägypten unter einem enormen Generationenkonflikt leiden. Viele junge Mitgliedre der MB sind von den alten Kadern desilluisioniert, weil die die einmalige demokratische Chance weggeworfen hatten und nicht in der Lage waren, sich mit der Opposition zu einigen. Ein vergleichsweise mildes Urteil gegen Mursi könnte auch dazu führen, die jungen Moslembrüder wieder in den politischen Dialog mit einzubinden. Die Chance dazu scheint derzeit sehr hoch, weil Sisis mit seinen beiden Großprojekten Suezkanal 2.0 und neue Hauptstadt zu einer großen Aufbruchstimmung und einem vor einem Jahr noch kaum vorstellbaren gesellschaftlichen Konsenz geführt haben.
Vertrag statt Krieg
Und schließlich hat Sisi auch noch mit einem dritten Projekt im ganzen Land punkten können. Während sein Vorgänger Mursi nicht müde wurde, dem Sudan und Äthiopien mit Krieg zu drohen, sollte sich durch ein geplantes Staudammprojekt etwas an den Wasserverhältnissen des Nils ändern, reiste Sisi nach Karthoum und unterzeichnete mit seinen Präsidentenkollegen Omar al Bashir (Sudan) und Hailemariam Desalegn (Äthiopien) ein Abkommen zum Bai eines Superstaudammes mit einer Leistung von 6.000 Megawatt – ein Abkommen, das sicher auch Ägypten zum Vorteil gereichen wird.
Weiter Weg zur Bürgergesellschaft
Vieles liegt in punkto Menschenrechte und Bürgergesellschaft in Ägypten noch im Argen. Die Pressfreiheit ist beschnitten und drakonische Strafen treffen nicht nur Moslembrüder sondern jeden, der sich all zu kritisch mit der Regierung auseinandersetzt. Doch wer das alles einfordert, sollte nicht vergessen, dass die ersten Erfahrung mit der Demokratie und Meinungsfreiheit nicht besonders gut waren. Immerhin versuchten Parlamentsmehrheit und gewählter Präsident Ägypten zu einem protofaschistisch-islamistischen Gottesstaat zu formen. Dass viele Ägypter seither den Segungen der Demokratie misstrauen ist daher so verwunderlich nicht.
Wenn das Urteil gegen Mursi wirklich ein winziges Zeichen der gesellschaftlichen Versöhnung sein sollte, dann wird’s am Ende vielleicht ja doch noch etwas mit der Bürgergesellschaft in Ägypten.