All zu lange, so scheint es, darf Ägypten nicht zur Ruhe kommen. Nach den überraschenden Ereignissen Ende Juni wirkte es, als komme das Land jetzt endlich zum Durchatmen. Nachdem Mohammed Mursi als gewählter Präsident bestätigt war, atmeten die meisten Ägypter erst einmal auf. Dass die Militärs ihm per kaltem Staatsstreich die meiste politische Macht genommen hatten, empörte vor allem die Moslembrüder. Liberale und Säkulare waren zwar erbittert über die Kaltschnäutzigkeit des Militärrates und protestierten gegen Beschneidung der Demokratie, aber insgeheim waren die auch froh darüber, dass die Islamisten jetzt nicht durchregieren konnten. Für Mursi andererseits bot das die Gelegenheit, das Land zunächst einmal im Inneren auszusöhnen. Wenigstens was seine Absichtserklärungen betrifft, begann Mursi ja ganz gut: Zwei Vizepräsidenten, eine Frau und ein Kopte, sollten her und Friedensnobelpreisträger El Baradei sollte Premierminister werden.
Und nun kommt also dieser Hammer: Mursi beruft das suspendierte Parlament wieder ein. Die Militärs sind völlig baff, das Verfassungsgericht komplett konsterniert. Die meisten Säkularen und Liberalen heulen auf. Für sie ist Mursis Vorstoß ein Beweis dafür, dass dem ehemaligen Moslembruder eben doch nicht zu trauen sei. Er habe schließlich angekündigt, nicht nur die Gesetze, sondern auch die höchstrichterlichen Urteile zu respektieren. Allerdings hat das Gericht das Parlament gar nicht aufgelöst. Es hat nur festgestellt, dass ein Drittel der Sitze nicht verfassungsgemäß bestetzt worden seien. Das Verfassungsgericht sagte nicht einmal etwas darüber aus, ob nur ein Drittel der Abgeordneten neu gewählt werden muss, oder ob das für das ganze Parlament gilt. Es war aber der Oberste Militärrat, der die Volksvertreter nach Hause geschickt hat.
Der Verdacht liegt nahe, dass Mursi seinen einstigen Mitstreitern die letzte parlamentarische Macht sichern will. Andererseits sieht sein Zeitplan vor, dass es etwa in einem halben Jahr schon wieder Neuwahlen geben könnte. Dass Moslembrüder und Salafisten bei einer neuen Parlamentswahl derzeit bei weitem nicht so gut abschneiden würden, darf mal getrost angenommen werden. Das zeigte sich ja schon bei den Präsidentschaftswahlen.
Was steckt also hinter Mursis Vorstoß? War das wirklich eine Harakiri-Aktion, wie viele meinen? Es gibt wohl zwei Möglichkeiten: Entweder ist Mursi einfach dumm und komplett fremdgesteuert. Ich glaube das nicht. Oder, und dazu tendiere ich eher, er verfolgt einen Plan. Jeder Präsident, der das Land in eine demokratische Zukunft führen will, muss sich früher oder später mit dem Obersten Militärrat anlegen. Dem steht derzeit noch Feldmarschall Mohammed Tantawi vor. Der wird im Oktober 77 und ist in den letzten anderthalb Jahren oft dadurch aufgefallen, dass er auf markige Worte kleinlaute Rückzieher folgen ließ. So gesehen könnte es sinnvoll sein, den Kampf zu führen, solange Tantawi noch da ist. Wer weiß schon, wer ihm nachfolgen könnte.
Dass der Militärrat keine Interesse daran hat, die Situation eskalieren zu lassen, ist schon daran zu ersehen, dass die Abgeordneten heute vom Militär nicht daran gehindert wurden, ins Parlament zu gehen. Derzeit scheint der Kollisionskurs, den Mursi ansteuert, noch ziemlich kuschelig zu sein. Aber fahren muss er ihn. Es ist doch so: Die Militärs haben den Präsidenten weitgehend entmachtet. Zeigt sich Mursi jetzt als schwach, wird er ganz schnell der Rückhalt bei seinen eigenen Anhängern verlieren. Den braucht er aber dringend, wenn das Projekt der Versöhnung mit Liberalen und Säkularen gelingen soll.
Andererseits ist ja auch nicht so viel passiert. Die Abgeordneten hatten sich mittags für eine Viertelstunde getroffen. Aber was geschieht nun, wenn sie Gesetze beschließen? Dann werden die wohl ganz schnell vom Verfassungsgericht wieder kassiert.
Wie es weiter geht? Jetzt ist demnächst erstmal Ramadan, und da geht gar nichts weiter. Der Politikbetrieb steht weitgehend still. Dann soll es möglichst bald eine neue Verfassung geben – und danach Neuwahlen zum Parlament. Das sagt Mohammed Mursi, der damit indirekt ja zwei Dinge zugibt: 1. Er akzeptiert den Spruch des Gerichtes. 2. Er gesteht ein, dass das Parlament wohl tatsächlich nicht verfassungskonform zusammengestellt ist.
Es bleibt spannend in Ägypten. Eigentlich ist es atemberaubend, diesen demokratischen Selbsfindungsprozess zu erleben. Natürlich wirkt manches improvisiert und chaotisch. Aber ich glaube, dass dieses Land noch zu mancher Überraschung fähig ist.