Rückblick: Das Lesezelt auf dem Mittenwalder Straßenfest
Schon seit 2013 veranstaltet der Verein mog61 – Miteinander ohne Grenzen e.V. bei uns in der Straße ein kleines, nachbarschaftliches Straßenfest, bei dem wir auch jedes Jahr mit einem Info- und Verkaufsstand mit dabei sind. Mittlerweile ist das Straßenfest in der Mittenwalder Straße zur festen Institution im Kiez geworden. Es ist zwar nicht so groß und überregional bekannt wie das Bergmannstraßenfest oder der Karneval der Kulturen, aber genau das macht auch seinen Charme aus. Zahlreiche Vereine und Initiativen präsentieren sich hier, kleine Händler und Privatpersonen bieten ihre Produkte an, und auch die Getränke- und Essensstände werden nicht von den immer gleichen üblichen Verdächtigen dominiert, die man sonst auf jedem Straßenfest in Berlin findet. Dazu gibt es eine Musikbühne, die jedes Jahr angenehme Überraschungen bereithält. Kurz und gut: ein nettes, kleines Fest von, mit und für Nachbarn.
»Warum gibt es keine Lesebühne?« – »Dann mach doch eine!«
Doch mir hat trotzdem etwas gefehlt: Ein Platz für Literatur. Klar, wir können an unserem Stand Bücher zum Verkauf anbieten, und ein paar sind auch jedes Jahr über den Ladentisch gegangen. Aber warum sollte ein Straßenfest nur aus Essen, Trinken und Musik bestehen? Warum gibt es eigentlich keine Bühne, auf der Lesungen stattfinden? Als ich die Vorsitzende des mog61 e.V. darauf angesprach, hatte sie eine einfache Antwort für mich: »Dann mach doch eine!«
Und so entstand die Idee für das Lesezelt. Literatur sollte auf die Straße geholt werden, so weit, so schön. Aber würde es funktionieren? Wer geht schon auf ein Straßenfest, um sich eine Lesung anzuhören? Oder hatten alle bloß darauf gewartet?
Schnell war klar, dass man den Besuchern des Straßenfestes ein »niedrigschwelliges Angebot« machen müsse, wie es so schön heißt. Also: Viele kurze Lesungen mit Pausen dazwischen, damit niemand das Gefühl hat, sich für eine mehrstündige Veranstaltung entscheiden zu müssen. Unkomplizierte Sitzgelegenheiten, die zum Verweilen einladen. Und überhaupt eine gemütliche Atmosphäre, gewährleistet durch ein offenes Zelt, das einerseits eine gewisse räumliche Trennung zum Trubel des Straßenfestes bieten, andererseits aber auch Zuschauer anlocken würde.
Leider war auch schnell klar, dass aus den Reihen der mog61-Mitglieder niemand Kapazitäten haben würde, sich neben dem eigentlichen Straßenfest auch noch um die Organisation einer Lesebühne zu kümmern. Aber zum Glück sind wir Kleinverleger ja gut vernetzt, und praktischerweise gibt es direkt bei uns in der Straße noch einen weiteren Verlag, den VHV-Verlag von Victoria Hohmann-Vierheller. Zusammen mit Victoria habe ich dann weitere Kollegen angesprochen und gefragt, ob sie bzw. ihre Autorinnen und Autoren Lust hätten, bei so einem Projekt mitzuwirken. Eh wir uns versahen, kam so in kürzester Zeit ein wirklich schönes und vor allem abwechslungsreiches Programm zustande.
PA gemietet, den Rest zusammengeliehen
Blieb noch die ganze sonstige Logistik. Die Audiotechnik war nach einigem Hin und Her recht schnell organisiert. PA-Verleiher gibt es in Berlin wie Sand am Meer. Vom Landesverband des Börsenvereins würden wir die hübschen Vorsicht-Buch!-Hocker geliehen bekommen. Doch alles andere war bis kurz vor dem Straßenfest noch einigermaßen unklar. Auch hier gab es – wie so oft – Hilfe aus dem Kiez. Ein Nachbar, der zufälligerweise Geschäftsführer einer großen Event-Agentur ist, besorgte die beiden Zelte und den schwarzen Rollteppich. Vom Wirt des unterRock konnten wir ein Bühnenpodest und den Tisch, an dem gelesen wurde, ausleihen. Nonne und Zwerg stellte uns mehrere Mini-Bierbänke zur Verfügung.
Als dann der große Tag kam, war trotzdem nicht alles so einfach. Strom, den wir für Licht und Tontechnik brauchten, war zunächst nur auf der anderen Straßenseite verfügbar. Die Zelte waren zwar schnell aufgebaut, aber wie man auf dem Foto erkennen kann, mussten wir wegen der unterschiedlichen Höhen ein wenig improvisieren. Und auch den Zeitaufwand für das Verkabeln von Audiotechnik darf man nicht vernachlässigen, insbesondere, wenn man sich auch noch in den Kopf gesetzt hat, das ganze Event auf Video aufzuzeichnen. Dankenswerterweise sprang hier ein Freund von uns, Philipp S. Tiesel (von dem auch die Fotos in diesem Posting stammen), ein und nahm die Technik federführend in die Hand. Doch schon bei der ersten Lesung mussten wir feststellen, dass wir, was die Akustik anging, zu optimistisch gewesen waren. Zeitgleich setzte auf der hundert Meter entfernten Musikbühne eine nicht ganz leise Band zum Spielen an. Wenn wir unsere Anlage aufdrehten, gab es aber Rückkopplungen … So mussten ausgerechnet unsere allerersten Zuhörer ziemlich nah an die Lesebühne heranrücken, um noch etwas zu verstehen. Glücklicherweise ließ sich das Problem aber mit einem kurzen Umbau lösen, so dass alle weiteren Lesungen gut zu verstehen waren.
Und die Lesungen selbst? Die waren durchweg spannend und kamen gut an. Es war zwar nicht bei jeder einzelnen Lesung proppenvoll, aber wir hatten schon den Eindruck, dass wir die Besucher des Straßenfestes für unsere Schnapsidee eines Lesezeltes begeistern konnten.
Insgesamt wurden sieben Bücher vorgestellt:
Victoria Hohmann: »Von Verwandlungen« (VHV-Verlag)
Ein Mann löst sich in den Überbleibseln seiner verronnenen Liebe auf, eine Frau schlafwandelt durch ihre Vergangenheit, um sich neu zu erfinden, Kinderaugen verändern politische Sichtweisen, Bildschirme befeuern überraschende Transformationen, Gleichschaltung zersetzt Leben – und mündet unverhofft in magischer Metamorphose.
Peter S. Kaspar: »Der gute Mensch von Assuan« (Carpathia Verlag)
Der ägyptische Milliardär Mansur Ghali kann nicht verstehen, warum man in Deutschland so kurzsichtig mit Flüchtlingen umgeht. In einem heruntergekommenen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern baut er eine Mischung aus Wohnprojekt und Bildungsstätte auf. Doch das Projekt stößt nicht nur auf Widerstand bei der dortigen Heimatkameradschaft, sondern sorgt auch für Wirbel in der Berliner Lokalpolitik.
Veselin Gatalo (übersetzt von Blanka Stipetic): »Getto« (Schruf & Stipetic)
Im Getto, einem Gefängniskomplex mitten in Europa, herrschen Anarchie und das Recht des Stärkeren. Der Einzelkämpfer Vuk gehört zu keiner der drei Armeen, die in dem abgeschotteten Gebiet um die Vorherrschaft kämpfen. Auf einem seiner Streifzüge stößt er auf den Reporter Luka, der sich illegal Zugang zum Getto verschafft hat und über wertvolles Wissen verfügt: Wer ins Getto gelangt ist, kennt auch den Weg hinaus.
Cornelia Becker: »Die Kinder meines Vaters« (Bübül Verlag Berlin)
Der westfälische Tankstellenbesitzer und Autohändler Hans hat eine große Leidenschaft: die Aufzucht von arabischen Hengsten. Seine Obsession macht ihn nicht nur zum Außenseiter in dem kleinen Ort auf dem Land, sondern taucht seine gesamte Familie in eine ungewöhnliche Welt aus orientalischen Namen, Stall- und Motorenölgerüchen sowie Reisen zu internationalen Pferdeschauen.
Stefanie Schleemilch: »Letzte Runde« (Verlag duotincta)
Was bleibt zu tun, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht? Làszlo, in jungen Jahren aus Ungarn in die Schweiz geflohen, sitzt in seiner leeren Wohnung und wartet auf einen jungen Mann. Auf dem Tisch ein Stapel Manuskripte: Das Vermächtnis von Làszlos altem Freund Dominik, das er vor der Vernichtung bewahren möchte und deshalb ausgerechnet einem Unbekannten überlassen muss.
Helge Großklaus: »Gier und Habsucht« (tredition)
»Ach, was muss man oft von bösen, ehrenwerten Leuten lesen!«. So beginnt diese satirische »Max & Moritz«-Nachdichtung, in der die beiden bösen Buben erwachsen geworden sind. Jetzt treiben sie als Erzkapitalisten namens »Gier & Habsucht« ihre üblen Streiche.
Miriam Rademacher: »Der Tanz des Mörders« (Carpathia Verlag)
Ein Dorf in Mittelengland: Die alte Mrs Summers sitzt eines Morgens tot im Sessel, ein Bratenthermometer im Gehörgang. Im Wald wird ein unbekanntes junges Mädchen gefunden, erschlagen mit einem Fleischklopfer. Ex-Tanzlehrer Colin, Pfarrer Jasper und die beinahe kleinwüchsige Krankenschwester Norma haben eine ganz eigene Idee, wie man den Küchenutensilienmörder findet: Man bringt ihm das Tanzen bei …
Wie erwähnt, haben wir alle Lesungen auf Video aufgenommen und werden die Mitschnitte auch veröffentlichen. Da es sich aber um rund dreieinhalb Stunden Material handelt, wird es noch ein wenig dauern, bis wir so weit sind. Bitte habt noch ein wenig Geduld.
Fazit? Weitermachen!
Es war eine Menge Arbeit, aber alle Beteiligten sind der Meinung, dass sie sich gelohnt hat. Deshalb wird es aller Voraussicht nach auch im nächsten Jahr ein Lesezelt auf dem Straßenfest in der Mittenwalder Straße geben. Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmal ganz herzlich bei allen bedanken, die das Lesezelt möglich gemacht haben – insbesondere beim Verein mog61 e.V., der uns unsere Idee einfach umsetzen ließ und die Kosten für Tontechnik und Honorare getragen hat. Der Verein ist übrigens gemeinnützig und freut sich über (steuerfreie!) Spenden …